Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 207

   
         
 

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  01 können. Wenn dieses Übel habituell und auf einen und denselben Gegenstand    
  02 gerichtet wird, so kann es in Wahnsinn ausschlagen. In Gesellschaft    
  03 zerstreut zu sein, ist unhöflich, oft auch lächerlich. Das Frauenzimmer    
  04 ist dieser Anwandlung gewöhnlich nicht unterworfen; sie müßten denn sich    
  05 mit Gelehrsamkeit abgeben. Ein Bedienter, der in seiner Aufwartung bei    
  06 Tische zerstreut ist, hat gemeiniglich etwas Arges, entweder was er vorhat,    
  07 oder wovon er die Folge besorgt, im Kopfe.    
         
  08 Aber sich zu zerstreuen, d. i. seiner unwillkürlich reproductiven    
  09 Einbildungskraft eine Diversion machen, z. B. wenn der Geistliche seine    
  10 memorirte Predigt gehalten und das Nachrumoren im Kopf verhindern    
  11 will, dies ist ein nothwendiges, zum Theil auch künstliches Verfahren der    
  12 Vorsorge für die Gesundheit seines Gemüths. Ein anhaltendes Nachdenken    
  13 über einen und denselben Gegenstand läßt gleichsam einen Nachklang    
  14 zurück, der (wie eben dieselbe Musik zu einem Tanze, wenn sie lange    
  15 fortdauert, dem von der Lustbarkeit Zurückkehrenden noch immer nachsummt,    
  16 oder wie Kinder ein und dasselbe bon mot von ihrer Art, vornehmlich    
  17 wenn es rhythmisch klingt, unaufhörlich wiederholen) - der,    
  18 sage ich, den Kopf belästigt und nur durch Zerstreuung und Verwendung    
  19 der Aufmerksamkeit auf andere Gegenstände, z. B. Lesung der Zeitungen,    
  20 gehoben werden kann. - Das sich Wiedersammeln ( collectio animi ),    
  21 um zu jeder neuen Beschäftigung bereit zu sein, ist eine die Gesundheit    
  22 des Gemüths befördernde Herstellung des Gleichgewichts seiner Seelenkräfte.    
  23 Dazu ist gesellschaftliche, mit wechselnden Materien - gleich einem    
  24 Spiel - angefüllte Unterhaltung das heilsamste Mittel; sie muß aber    
  25 nicht von einer auf die andere wider die natürliche Verwandtschaft der    
  26 Ideen abspringend sein; denn sonst geht die Gesellschaft im Zustande eines    
  27 zerstreuten Gemüths auseinander, indem das Hundertste mit dem Tausendsten    
  28 vermischt und Einheit der Unterredung gänzlich vermißt wird,    
  29 also das Gemüth sich verwirrt findet und einer neuen Zerstreuung bedarf,    
  30 um jene los zu werden.    
         
  31 Man sieht hieraus: daß es eine (nicht gemeine) zur Diätetik des    
  32 Gemüths gehörige Kunst für Beschäftigte giebt, sich zu zerstreuen, um    
  33 Kräfte zu sammeln. - Wenn man aber seine Gedanken gesammelt, d. i.    
  34 in Bereitschaft gesetzt hat, sie nach beliebiger Absicht zu benutzen, so kann    
  35 man doch den, der an einem nicht schicklichen Orte oder in einem dergleichen    
  36 Geschäfts=Verhältniß zu Anderen seinen Gedanken geflissentlich nachhängt    
  37 und darüber jene Verhältnisse nicht in Acht nimmt, nicht den Zerstreuten    
         
     

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