Kant: AA VII, Anthropologie in pragmatischer ... , Seite 152

   
         
 

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  01 Die Vernunft dem Menschen zum Gesetz macht, um mit sich selbst zufrieden    
  02 zu sein, wenn er gar nichts thut (zwecklos vegetirt), weil er da doch    
  03 nichts Böses thut. Sie also wieder zu betrügen (welches durch das    
  04 Spiel mit schönen Künsten, am meisten aber durch gesellige Unterhaltung    
  05 geschehen kann), heißt die Zeit vertreiben ( tempus fallere ); wo der    
  06 Ausdruck schon die Absicht andeutet, nämlich die Neigung zur geschäftlosen    
  07 Ruhe selbst zu betrügen, wenn durch schöne Künste das Gemüth spielend    
  08 unterhalten, ja auch nur durch ein bloßes, an sich zweckloses Spiel in    
  09 einem friedlichen Kampfe wenigstens Cultur des Gemüths bewirkt wird;    
  10 widrigenfalls es heißen würde, die Zeit tödten. -- Mit Gewalt ist    
  11 wider die Sinnlichkeit in den Neigungen nichts ausgerichtet; man mu    
  12 sie überlisten und, wie Swift sagt, dem Walfisch eine Tonne zum Spiel    
  13 hingeben, um das Schiff zu retten.    
         
  14 Die Natur hat den Hang, sich gerne täuschen zu lassen, dem Menschen    
  15 weislich eingepflanzt, selbst um die Tugend zu retten, oder doch zu ihr    
  16 hinzuleiten. Der gute, ehrbare Anstand ist ein äußerer Schein, der andern    
  17 Achtung einflößt (sich nicht gemein zu machen). Zwar würde das    
  18 Frauenzimmer damit schlecht zufrieden sein, wenn das männliche Geschlecht    
  19 ihren Reizen nicht zu huldigen schiene. Aber Sittsamkeit ( pudicitia ),    
  20 ein Selbstzwang, der die Leidenschaft versteckt, ist doch als Illusion    
  21 sehr heilsam, um zwischen einem und dem anderen Geschlecht den Abstand    
  22 zu bewirken, der nöthig ist, um nicht das eine zum bloßen Werkzeuge des    
  23 Genusses des anderen abzuwürdigen.- Überhaupt ist Alles, was man    
  24 Wohlanständigkeit ( decorum ) nennt, von derselben Art, nämlich nichts    
  25 als schöner Schein.    
         
  26 Höflichkeit (Politesse) ist ein Schein der Herablassung, der Liebe    
  27 einflößt. Die Verbeugungen (Complimente) und die ganze höfische    
  28 Galanterie sammt den heißesten Freundschaftsversicherungen mit Worten    
  29 sind zwar nicht eben immer Wahrheit (Meine lieben Freunde: es giebt    
  30 keinen Freund! Aristoteles), aber sie betrügen darum doch auch    
  31 nicht, weil ein jeder weiß, wofür er sie nehmen soll, und dann vornehmlich    
  32 darum, weil diese anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der    
  33 Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten.    
         
  34 Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemünze; ein Kind ist    
  35 der, welcher sie für ächtes Gold nimmt. - Es ist doch aber besser, Scheidemünze,    
  36 als gar kein solches Mittel im Umlauf zu haben, und endlich kann    
  37 es doch, wenn gleich mit ansehnlichem Verlust, in baares Gold umgesetzt    
         
     

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