Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 100

   
         
 

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  01 Mit der Gesundheit, als dem zweiten natürlichen Wunsche, ist es dagegen    
  02 nur mißlich bewandt. Man kann sich gesund fühlen (aus dem behaglichen    
  03 Gefühl seines Lebens urtheilen), nie aber wissen, daß man    
  04 gesund sei. - Jede Ursache des natürlichen Todes ist Krankheit: man mag    
  05 sie fühlen oder nicht. - Es giebt viele, von denen, ohne sie eben verspotten    
  06 zu wollen, man sagt, daß sie für immer kränkeln, nie krank werden    
  07 können; deren Diät ein immer wechselndes Abschweifen und wieder Einbeugen    
  08 ihrer Lebensweise ist, und die es im Leben, wenn gleich nicht den    
  09 Kraftäußerungen, doch der Länge nach weit bringen. Wie viel aber meiner    
  10 Freunde oder Bekannten habe ich nicht überlebt, die sich bei einer einmal    
  11 angenommenen ordentlichen Lebensart einer völligen Gesundheit rühmten:    
  12 indessen daß der Keim des Todes (die Krankheit), der Entwickelung nahe,    
  13 unbemerkt in ihnen lag, und der, welcher sich gesund fühlte, nicht wußte,    
  14 daß er krank war; denn die Ursache eines natürlichen Todes kann man    
  15 doch nicht anders als Krankheit nennen. Die Causalität aber kann man    
  16 nicht fühlen, dazu gehört Verstand, dessen Urtheil irrig sein kann; indessen    
  17 daß das Gefühl untrüglich ist, aber nur dann, wenn man sich krankhaft    
  18 fühlt, diesen Namen führt; fühlt man sich aber so auch nicht, doch gleichwohl    
  19 in dem Menschen verborgenerweise und zur baldigen Entwickelung    
  20 bereit liegen kann; daher der Mangel dieses Gefühls keinen andern Ausdruck    
  21 des Menschen für sein Wohlbefinden verstattet, als daß er scheinbarlich    
  22 gesund sei. Das lange Leben also, wenn man dahin zurücksieht,    
  23 kann nur die genossene Gesundheit bezeugen, und die Diätetik wird vor    
  24 allem in der Kunst das Leben zu verlängern (nicht es zu genießen)    
  25 ihre Geschicklichkeit oder Wissenschaft zu beweisen haben: wie es auch Herr    
  26 Hufeland so ausgedrückt haben will.    
         
  27

Grundsatz der Diätetik.

   
         
  28 Auf Gemächlichkeit muß die Diätetik nicht berechnet werden; denn    
  29 diese Schonung seiner Kräfte und Gefühle ist Verzärtelung, d. i. sie hat    
  30 Schwäche und Kraftlosigkeit zur Folge und ein allmähliges Erlöschen der    
  31 Lebenskraft aus Mangel der Übung; so wie eine Erschöpfung derselben    
  32 durch zu häufigen und starken Gebrauch derselben. Der Stoicism als    
  33 Princip der Diätetik ( sustine et abstine ) gehört also nicht bloß zur praktischen    
  34 Philosophie als Tugendlehre, sondern auch zu ihr als Heilkunde.    
  35 Diese ist alsdann philosophisch, wenn bloß die Macht der    
         
     

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