Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 063

   
         
 

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  01 Ein Gesetzbuch des nicht aus der menschlichen Vernunft gezogenen,    
  02 aber doch mit ihr, als moralisch=praktischer Vernunft, dem Endzwecke nach    
  03 vollkommen einstimmigen statutarischen (mithin aus einer Offenbarung    
  04 hervorgehenden) göttlichen Willens, die Bibel, würde nun das kräftigste    
  05 Organ der Leitung des Menschen und des Bürgers zum zeitlichen    
  06 und ewigen Wohl sein, wenn sie nur als Gottes Wort beglaubigt und    
  07 ihre Authenticität documentirt werden könnte. - Diesem Umstande aber    
  08 stehen viele Schwierigkeiten entgegen.    
         
  09 Denn wenn Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch    
  10 niemals wissen, daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings    
  11 unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen    
  12 fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran kennen solle.    
  13 - Daß es aber nicht Gott sein könne, dessen Stimme er zu hören glaubt,    
  14 davon kann er sich wohl in einigen Fällen überzeugen; denn wenn das,    
  15 was ihm durch sie geboten wird, dem moralischen Gesetz zuwider ist, so    
  16 mag die Erscheinung ihm noch so majestätisch und die ganze Natur überschreitend    
  17 dünken: er muß sie doch für Täuschung halten.*)    
         
  18 Die Beglaubigung der Bibel nun, als eines in Lehre und Beispiel    
  19 zur Norm dienenden evangelisch=messianischen Glaubens, kann nicht aus    
  20 der Gottesgelahrtheit ihrer Verfasser (denn der war immer ein dem möglichen    
  21 Irrthum ausgesetzter Mensch), sondern muß aus der Wirkung ihres    
  22 Inhalts auf die Moralität des Volks von Lehrern aus diesem Volk selbst,    
  23 als Idioten (im Wissenschaftlichen), an sich, mithin als aus dem reinen    
  24 Quell der allgemeinen, jedem gemeinen Menschen beiwohnenden Vernunftreligion    
  25 geschöpft betrachtet werden, die eben durch diese Einfalt auf die    
         
    *) Zum Beispiel kann die Mythe von dem Opfer dienen, das Abraham auf göttlichen Befehl durch Abschlachtung und Verbrennung seines einzigen Sohnes (das arme Kind trug unwissend noch das Holz hinzu) - bringen wollte. Abraham hätte auf diese vermeinte göttliche Stimme antworten müssen: "Daß ich meinen guten Sohn nicht tödten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß und kann es auch nicht werden", wenn sie auch vom (sichtbaren) Himmel herabschallte.    
         
     

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