Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 061

   
         
 

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Friedens=Abschluß und Beilegung des Streits der

   
  02

Facultäten.

   
         
  03 In Streitigkeiten, welche blos die reine, aber praktische Vernunft    
  04 angehen, hat die philosophische Facultät ohne Widerrede das Vorrecht,    
  05 den Vortrag zu thun und, was das Formale betrifft, den Proceß zu instruiren;    
  06 was aber das Materiale anlangt, so ist die theologische im    
  07 Besitz den Lehnstuhl, der den Vorrang bezeichnet, einzunehmen, nicht weil    
  08 sie etwa in Sachen der Vernunft auf mehr Einsicht Anspruch machen    
  09 kann als die übrigen, sondern weil es die wichtigste menschliche Angelegenheit    
  10 betrifft, und führt daher den Titel der obersten Facultät (doch    
  11 nur als prima inter pares ). - Sie spricht aber nicht nach Gesetzen der    
  12 reinen und a priori erkennbaren Vernunftreligion (denn da würde sie sich    
  13 erniedrigen und auf die philosophische Bank herabsetzen), sondern nach    
  14 statutarischen, in einem Buche, vorzugsweise Bibel genannt, enthaltenen    
  15 Glaubensvorschriften, d. i. in einem Codex der Offenbarung eines    
  16 vor viel hundert Jahren geschlossenen alten und neuen Bundes der Menschen    
  17 mit Gott, dessen Authenticität als eines Geschichtsglaubens (nicht    
  18 eben des moralischen; denn der würde auch aus der Philosophie gezogen    
  19 werden können) doch mehr von der Wirkung, welche die Lesung der Bibel    
  20 auf das Herz der Menschen thun mag, als von mit kritischer Prüfung der    
  21 darin enthaltenen Lehren und Erzählungen aufgestellten Beweisen erwartet    
  22 werden darf, dessen Auslegung auch nicht der natürlichen Vernunft    
  23 der Laien, sondern nur der Scharfsinnigkeit der Schriftgelehrten überlassen    
  24 wird.*)    
         
    *) Im römisch =katholischen System des Kirchenglaubens ist diesen Punkt (das Bibellesen) betreffend mehr Consequenz als im protestantischen.- Der reformirte Prediger La Coste sagt zu seinen Glaubensgenossen: "Schöpft das göttliche Wort aus der Quelle (der Bibel) selbst, wo ihr es dann lauter und unverfälscht einnehmen könnt; aber ihr müßt ja nichts anders in der Bibel finden, als was wir darin finden.- Nun, lieben Freunde, sagt uns lieber, was ihr in der Bibel findet, damit wir nicht unnöthiger Weise darin selbst suchen und am Ende, was wir darin gefunden zu haben vermeinten, von euch für unrichtige Auslegung derselben erklärt werde."- Auch spricht die katholische Kirche in dem Satze: Außer der Kirche (der katholischen) ist kein Heil", consequenter als die protestantische, wenn diese sagt: daß man auch als Katholik selig werden könne. Denn wenn das ist (sagt Bossuet), so wählt man ja am sichersten, sich zur ersteren zu schlagen. Denn noch seliger als selig kann doch kein Mensch zu werden verlangen.    
         
     

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