Kant: AA VII, Der Streit der ... , Seite 059

   
         
 

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  01 die, je länger man dieses wahre (nicht erdachte) Ideal ansieht, nur immer    
  02 desto höher steigt: so daß diejenigen wohl zu entschuldigen sind, welche,    
  03 durch die Unbegreiflichkeit desselben verleitet, dieses Übersinnliche in    
  04 uns, weil es doch praktisch ist, für übernatürlich, d. i. für etwas, was    
  05 gar nicht in unserer Macht steht und uns als eigen zugehört, sondern vielmehr    
  06 für den Einfluß von einem andern und höheren Geiste halten; worin    
  07 sie aber sehr fehlen: weil die Wirkung dieses Vermögens alsdann nicht    
  08 unsere That sein, mithin uns auch nicht zugerechnet werden könnte, das    
  09 Vermögen dazu also nicht das unsrige sein würde.- Die Benutzung der    
  10 Idee dieses uns unbegreiflicher Weise beiwohnenden Vermögens und in    
  11 Ansherzlegung derselben von der frühesten Jugend an und fernerhin im    
  12 öffentlichen Vortrage enthält nun die ächte Auflösung jenes Problems    
  13 (vom neuen Menschen), und selbst die Bibel scheint nichts anders vor    
  14 Augen gehabt zu haben, nämlich nicht auf übernatürliche Erfahrungen    
  15 und schwärmerische Gefühle hin zu weisen, die statt der Vernunft diese    
  16 Revolution bewirken sollten: sondern auf den Geist Christi, um ihn, so wie    
  17 er ihn in Lehre und Beispiel bewies, zu dem unsrigen zu machen, oder    
  18 vielmehr, da er mit der ursprünglichen moralischen Anlage schon in uns    
  19 liegt, ihm nur Raum zu verschaffen. Und so ist zwischen dem seelenlosen    
  20 Orthodoxism und dem vernunfttödtenden Mysticism die biblische    
  21 Glaubenslehre, so wie sie vermittelst der Vernunft aus uns selbst entwickelt    
  22 werden kann, die mit göttlicher Kraft auf aller Menschen Herzen zur gründlichen    
  23 Besserung hinwirkende und sie in einer allgemeinen (obzwar unsichtbaren)    
  24 Kirche vereinigende, auf dem Kriticism der praktischen Vernunft    
  25 gegründete wahre Religionslehre.    
         
  26 Das aber, worauf es in dieser Anmerkung eigentlich ankommt, ist    
  27 die Beantwortung der Frage: ob die Regierung wohl einer Secte des Gefühlglaubens    
  28 die Sanction einer Kirche könne angedeihen lassen; oder ob    
  29 sie eine solche zwar dulden und schützen, mit jenem Prärogativ aber nicht    
  30 beehren könne, ohne ihrer eigenen Absicht zuwider zu handeln.    
  31 Wenn man annehmen darf (wie man es denn mit Grunde thun kann),    
  32 daß es der Regierung Sache gar nicht sei, für die künftige Seligkeit der    
  33 Unterthanen Sorge zu tragen und ihnen den Weg dazu anzuweisen (denn    
  34 das muß sie wohl diesen selbst überlassen, wie denn auch der Regent selbst    
         
     

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