Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 463 |
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Text (Kant):
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| 02 | Andere Verachten ( contemnere ), d. i. ihnen die dem Menschen überhaupt | ||||||
| 03 | schuldige Achtung weigern, ist auf alle Fälle pflichtwidrig; denn es | ||||||
| 04 | sind Menschen. Sie vergleichungsweise mit Anderen innerlich geringschätzen | ||||||
| 05 | ( despicatui habere ) ist zwar bisweilen unvermeidlich, aber die | ||||||
| 06 | äußere Bezeigung der Geringschätzung ist doch Beleidigung. - Was gefährlich | ||||||
| 07 | ist, ist kein Gegenstand der Verachtung, und so ist es auch nicht | ||||||
| 08 | der Lasterhafte; und wenn die Überlegenheit über die Angriffe desselben | ||||||
| 09 | mich berechtigt zu sagen: ich verachte jenen, so bedeutet das nur so viel, | ||||||
| 10 | als: es ist keine Gefahr dabei, wenn ich gleich gar keine Vertheidigung | ||||||
| 11 | gegen ihn veranstaltete, weil er sich in seiner Verworfenheit selbst darstellt. | ||||||
| 12 | Nichts desto weniger kann ich selbst dem Lasterhaften als Menschen | ||||||
| 13 | nicht alle Achtung versagen, die ihm wenigstens in der Qualität eines | ||||||
| 14 | Menschen nicht entzogen werden kann; ob er zwar durch seine That sich | ||||||
| 15 | derselben unwürdig macht. So kann es schimpfliche, die Menschheit selbst | ||||||
| 16 | entehrende Strafen geben (wie das Viertheilen, von Hunden zerreißen | ||||||
| 17 | lassen, Nasen und Ohren abschneiden), die nicht blos dem Ehrliebenden | ||||||
| 18 | (der auf Achtung Anderer Anspruch macht, was ein jeder thun muß) | ||||||
| 19 | schmerzhafter sind, als der Verlust der Güter und des Lebens, sondern | ||||||
| 20 | auch dem Zuschauer Schamröthe abjagen, zu einer Gattung zu gehören, | ||||||
| 21 | mit der man so verfahren darf. | ||||||
| 22 | Anmerkung. Hierauf gründet sich eine Pflicht der Achtung | ||||||
| 23 | für den Menschen selbst im logischen Gebrauch seiner Vernunft: die | ||||||
| 24 | Fehltritte derselben nicht unter dem Namen der Ungereimtheit, des | ||||||
| 25 | abgeschmackten Urtheils u. dg. zu rügen, sondern vielmehr voraus zu | ||||||
| 26 | setzen, daß in demselben doch etwas Wahres sein müsse, und dieses | ||||||
| 27 | heraus zu suchen; dabei aber auch zugleich den trüglichen Schein | ||||||
| 28 | (das Subjective der Bestimmungsgründe des Urtheils, was durch | ||||||
| 29 | ein Versehen für objectiv gehalten wurde) aufzudecken und so, indem | ||||||
| 30 | man die Möglichkeit zu irren erklärt, ihm noch die Achtung für seinen | ||||||
| 31 | Verstand zu erhalten. Denn spricht man seinem Gegner in einem | ||||||
| 32 | gewissen Urtheile durch jene Ausdrücke allen Verstand ab, wie will | ||||||
| 33 | man ihn dann darüber verständigen, daß er geirrt habe? - Eben | ||||||
| 34 | so ist es auch mit dem Vorwurf des Lasters bewandt, welcher nie | ||||||
| 35 | zur völligen Verachtung und Absprechung alles moralischen Werths | ||||||
| 36 | des Lasterhaften ausschlagen muß: weil nach dieser Hypothese auch | ||||||
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