Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 439

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 oder blos idealische Person sein, welche die Vernunft sich selbst      
  02 schafft.*)      
           
  03 Eine solche idealische Person (der autorisirte Gewissensrichter) mu      
  04 ein Herzenskündiger sein; denn der Gerichtshof ist im Inneren des Menschen      
  05 aufgeschlagen - zugleich muß er aber auch allverpflichtend, d. i.      
  06 eine solche Person sein, oder als eine solche gedacht werden, in Verhältniß      
  07 auf welche alle Pflichten überhaupt auch als ihre Gebote anzusehen sind:      
  08 weil das Gewissen über alle freie Handlungen der innere Richter ist.      
  09 - Da nun ein solches moralisches Wesen zugleich alle Gewalt (im Himmel      
  10 und auf Erden) haben muß, weil es sonst nicht (was doch zum Richteramt      
  11 nothwendig gehört) seinen Gesetzen den ihnen angemessenen Effect      
  12 verschaffen könnte, ein solches über Alles machthabende moralische Wesen      
  13 aber Gott heißt: so wird das Gewissen als subjectives Princip einer vor      
  14 Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden      
  15 müssen: ja es wird der letztere Begriff (wenn gleich nur auf dunkele Art)      
  16 in jenem moralischen Selbstbewußtsein jederzeit enthalten sein.      
           
  17 Dieses will nun nicht so viel sagen als: der Mensch, durch die Idee,      
  18 zu welcher ihn sein Gewissen unvermeidlich leitet, sei berechtigt, noch weniger      
  19 aber: er sei durch dasselbe verbunden ein solches höchste Wesen außer      
  20 sich als wirklich anzunehmen; denn sie wird ihm nicht objectiv, durch      
  21 theoretische, sondern blos subjectiv, durch praktische, sich selbst verpflichtende      
           
    *) Die zwiefache Persönlichkeit, in welcher der Mensch, der sich im Gewissen anklagt und richtet, sich selbst denken muß: dieses doppelte Selbst, einerseits vor den Schranken eines Gerichtshofes, der doch ihm selbst anvertraut ist, zitternd stehen zu müssen, andererseits aber das Richteramt aus angeborener Autorität selbst in Händen zu haben, bedarf einer Erläuterung, damit nicht die Vernunft mit sich selbst gar in Widerspruch gerathe. - Ich, der Kläger und doch auch Angeklagter, bin eben derselbe Mensch ( numero idem ), aber als Subject der moralischen, von dem Begriffe der Freiheit ausgehenden Gesetzgebung, wo der Mensch einem Gesetz unterthan ist, das er sich selbst giebt ( homo noumenon ), ist er als ein Anderer als der mit Vernunft begabte Sinnenmensch ( Specie diversus ), aber nur in praktischer Rücksicht zu betrachten Denn über das Causal=Verhältniß des Intelligibilen zum Sensibilen giebt es keine Theorie, - und diese specifische Verschiedenheit ist die der Facultäten des Menschen (der oberen und unteren), die ihn charakterisiren. Der erstere ist der Ankläger, dem entgegen ein rechtlicher Beistand des Verklagten (Sachverwalter desselben) bewilligt ist. Nach Schließung der Acten thut der innere Richter, als machthabende Person, den Ausspruch über Glückseligkeit oder Elend, als moralische Folgen der That, in welcher Qualität wir dieser ihre Macht (als Weltherrschers) durch unsere Vernunft nicht weiter verfolgen, sondern nur das unbedingte iubeo oder veto verehren können.      
           
     

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