Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 410 |
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| 03 | Dieses Princip der Eintheilung muß erstlich, was das Formale | ||||||
| 04 | betrifft, alle Bedingungen enthalten, welche dazu dienen, einen Theil der | ||||||
| 05 | allgemeinen Sittenlehre von der Rechtslehre und zwar der specifischen | ||||||
| 06 | Form nach zu unterscheiden, und das geschieht dadurch: daß 1) Tugendpflichten | ||||||
| 07 | solche sind, für welche keine äußere Gesetzgebung statt findet; 2) | ||||||
| 08 | daß, da doch aller Pflicht ein Gesetz zum Grunde liegen muß, dieses in der | ||||||
| 09 | Ethik ein Pflichtgesetz, nicht für die Handlungen, sondern blos für die | ||||||
| 10 | Maximen der Handlungen gegeben, sein kann; 3) daß (was wiederum | ||||||
| 11 | aus diesem folgt) die ethische Pflicht als weite, nicht als enge Pflicht gedacht | ||||||
| 12 | werden müsse. | ||||||
| 13 | Zweitens: was das Materiale anlangt, muß sie nicht blos als | ||||||
| 14 | Pflichtlehre überhaupt, sondern auch als Zwecklehre aufgestellt werden: | ||||||
| 15 | so daß der Mensch sowohl sich selbst, als auch jeden anderen Menschen | ||||||
| 16 | sich als seinen Zweck zu denken verbunden ist, (die man Pflichten der Selbstliebe | ||||||
| 17 | und Nächstenliebe zu nennen pflegt) welche Ausdrücke hier in uneigentlicher | ||||||
| 18 | Bedeutung genommen werden, weil es zum Lieben direct | ||||||
| 19 | keine Pflicht geben kann, wohl aber zu Handlungen, durch die der | ||||||
| 20 | Mensch sich und andere zum Zweck macht. | ||||||
| 21 | Drittens: was die Unterscheidung des Materialen vom Formalen | ||||||
| 22 | (der Gesetzmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit) im Princip der Pflicht betrifft, | ||||||
| 23 | so ist zu merken: daß nicht jede Tugendverpflichtung ( obligatio | ||||||
| 24 | ethica ) eine Tugendpflicht ( officium ethicum s. virtutis ) sei; mit anderen | ||||||
| 25 | Worten: daß die Achtung vor dem Gesetze überhaupt noch nicht einen | ||||||
| 26 | Zweck als Pflicht begründe; denn der letztere allein ist Tugendpflicht. | ||||||
| 27 | Daher giebt es nur eine Tugendverpflichtung, aber viel Tugendpflichten: | ||||||
| 28 | weil es zwar viel Objecte giebt, die für uns Zwecke sind, welche zu | ||||||
| 29 | haben zugleich Pflicht ist, aber nur eine tugendhafte Gesinnung als subjectiver | ||||||
| 30 | Bestimmungsgrund seine Pflicht zu erfüllen, welche sich auch über | ||||||
| 31 | Rechtspflichten erstreckt, die aber darum nicht den Namen der Tugendpflichten | ||||||
| 32 | führen können. - Daher wird alle Eintheilung der Ethik nur | ||||||
| 33 | auf Tugendpflichten gehen. Die Wissenschaft von der Art, auch ohne | ||||||
| 34 | Rücksicht auf mögliche äußere Gesetzgebung verbindlich zu sein, ist die | ||||||
| 35 | Ethik selbst, ihrem formalen Princip nach betrachtet. | ||||||
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