Kant: AA VI, Die Metaphysik der Sitten. ... , Seite 334

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der Schelm aber die Karre; so bringt es die Natur des menschlichen      
  02 Gemüths mit sich. Denn der erstere kennt etwas, was er noch höher schätzt,      
  03 als selbst das Leben: nämlich die Ehre; der andere hält ein mit Schande      
  04 bedecktes Leben doch immer noch für besser, als gar nicht zu sein ( animam      
  05 praeferre pudori. Iuven. ). Der erstere ist nun ohne Widerrede weniger      
  06 strafbar als der andere, und so werden sie durch den über alle gleich verhängten      
  07 Tod ganz proportionirlich bestraft, jener gelinde nach seiner Empfindungsart      
  08 und dieser hart nach der seinigen; da hingegen, wenn durchgängig      
  09 auf die Karrenstrafe erkannt würde, der erstere zu hart, der andere      
  10 für seine Niederträchtigkeit gar zu gelinde bestraft wäre; und so ist auch hier      
  11 im Ausspruche über eine im Complot vereinigte Zahl von Verbrechern      
  12 der beste Ausgleicher vor der öffentlichen Gerechtigkeit der Tod. - Überdem      
  13 hat man nie gehört, daß ein wegen Mordes zum Tode Verurtheilter      
  14 sich beschwert hätte, daß ihm damit zu viel und also unrecht geschehe;      
  15 jeder würde ihm ins Gesicht lachen, wenn er sich dessen äußerte. - Man      
  16 müßte sonst annehmen, daß, wenn dem Verbrecher gleich nach dem Gesetz      
  17 nicht unrecht geschieht, doch die gesetzgebende Gewalt im Staat diese Art      
  18 von Strafe zu verhängen nicht befugt und, wenn sie es thut, mit sich selbst      
  19 im Widerspruch sei.      
           
  20 So viel also der Mörder sind, die den Mord verübt, oder auch befohlen,      
  21 oder dazu mitgewirkt haben, so viele müssen auch den Tod leiden;      
  22 so will es die Gerechtigkeit als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen,      
  23 a priori begründeten Gesetzen. - Wenn aber doch die Zahl der      
  24 Complicen ( correi ) zu einer solchen That so groß ist, daß der Staat, um      
  25 keine solche Verbrecher zu haben, bald dahin kommen könnte, keine Unterthanen      
  26 mehr zu haben, und sich doch nicht auflösen, d. i. in den noch viel      
  27 ärgeren, aller äußeren Gerechtigkeit entbehrenden Naturzustand übergehen      
  28 (vornehmlich nicht durch das Spectakel einer Schlachtbank das Gefühl des      
  29 Volks abstumpfen) will, so muß es auch der Souverän in seiner Macht      
  30 haben, in diesem Nothfall ( casus necessitatis ) selbst den Richter zu machen      
  31 (vorzustellen) und ein Urtheil zu sprechen, welches statt der Lebensstrafe      
  32 eine andere den Verbrechern zuerkennt, bei der die Volksmenge noch erhalten      
  33 wird, dergleichen die Deportation ist: dieses selbst aber nicht als      
  34 nach einem öffentlichen Gesetz, sondern durch einen Machtspruch, d. i. einen      
  35 Act des Majestätsrechts, der als Begnadigung nur immer in einzelnen      
  36 Fällen ausgeübt werden kann.      
  37 Hiegegen hat nun der Marchese Beccaria aus theilnehmender Empfindelei      
           
     

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