Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 106

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Fortschritte des Publicums in Religionsbegriffen auf einmal      
  02 habe erscheinen können, nicht wohl eingesehen werden kann. In der Zweifelhaftigkeit      
  03 dieser Aufgabe nun, ob Gott oder die Menschen selbst eine Kirche      
  04 gründen sollen, beweist sich nun der Hang der letztern zu einer gottesdienstlichen      
  05 Religion ( cultus ) und, weil diese auf willkürlichen Vorschriften      
  06 beruht, zum Glauben an statutarische göttliche Gesetze unter der      
  07 Voraussetzung, daß über dem besten Lebenswandel (den der Mensch nach      
  08 Vorschrift der rein moralischen Religion immer einschlagen mag) doch      
  09 noch eine durch Vernunft nicht erkennbare, sondern eine der Offenbarung      
  10 bedürftige göttliche Gesetzgebung hinzukommen müsse; womit es unmittelbar      
  11 auf Verehrung des höchsten Wesens (nicht vermittelst der durch Vernunft      
  12 uns schon vorgeschriebenen Befolgung seiner Gebote) angesehen ist.      
  13 Hierdurch geschieht es nun, daß Menschen die Vereinigung zu einer Kirche      
  14 und die Einigung in Ansehung der ihr zu gebenden Form, imgleichen      
  15 öffentliche Veranstaltungen zur Beförderung des Moralischen in der      
  16 Religion niemals für an sich nothwendig halten werden; sondern nur um      
  17 durch Feierlichkeiten, Glaubensbekenntnisse geoffenbarter Gesetze und Beobachtung      
  18 der zur Form der Kirche (die doch selbst bloß Mittel ist) gehörigen      
  19 Vorschriften, wie sie sagen, ihrem Gott zu dienen; obgleich alle      
  20 diese Observanzen im Grunde moralisch=indifferente Handlungen sind, eben      
  21 darum aber, weil sie bloß um seinetwillen geschehen sollen, für ihm desto      
  22 gefälliger gehalten werden. Der Kirchenglaube geht also in der Bearbeitung      
  23 der Menschen zu einem ethischen gemeinen Wesen natürlicherweise )      
  24 vor dem reinen Religionsglauben vorher, und Tempel (dem      
  25 öffentlichen Gottesdienste geweihte Gebäude) waren eher als Kirchen      
  26 (Versammlungsörter zur Belehrung und Belebung in moralischen Gesinnungen),      
  27 Priester (geweihte Verwalter frommer Gebräuche) eher als      
  28 Geistliche (Lehrer der rein moralischen Religion) und sind es mehrentheils      
  29 auch noch im Range und Werthe, den ihnen die große Menge zugesteht.      
           
  31 Wenn es nun also einmal nicht zu ändern steht, daß nicht ein statutarischer      
  32 Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben als Vehikel und      
  33 Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des      
  34 Letztern beigegeben werde, so muß man auch eingestehen, daß die unveränderliche      
  35 Aufbehaltung desselben, die allgemeine einförmige Ausbreitung      
           
    *!) Moralischerweise sollte es umgekehrt zugehen.      
           
     

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