Kant: AA VI, Die Religion innerhalb der ... , Seite 041

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Eine jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung      
  02 derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus      
  03 dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre. Denn: wie auch sein voriges      
  04 Verhalten gewesen sein mag, und welcherlei auch die auf ihn einfließenden      
  05 Naturursachen sein mögen, imgleichen ob sie in oder außer ihm      
  06 anzutreffen sind: so ist seine Handlung doch frei und durch keine dieser      
  07 Ursachen bestimmt, kann also und muß immer als ein ursprünglicher      
  08 Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden. Er sollte sie unterlassen haben,      
  09 in welchen Zeitumständen und Verbindungen er auch immer gewesen      
  10 sein mag; denn durch keine Ursache in der Welt kann er aufhören, ein frei      
  11 handelndes Wesen zu sein. Man sagt zwar mit Recht: dem Menschen      
  12 werden auch die aus seinen ehemaligen freien, aber gesetzwidrigen Handlungen      
  13 entspringenden Folgen zugerechnet; dadurch aber will man nur      
  14 sagen: man habe nicht nöthig, sich auf diese Ausflucht einzulassen und      
  15 auszumachen, ob die letztern frei sein mögen, oder nicht, weil schon in der      
  16 geständlich freien Handlung, die ihre Ursache war, hinreichender Grund      
  17 der Zurechnung vorhanden ist. Wenn aber jemand bis zu einer unmittelbar      
  18 bevorstehenden freien Handlung auch noch so böse gewesen wäre      
  19 (bis zur Gewohnheit als anderer Natur): so ist es nicht allein seine Pflicht      
  20 gewesen, besser zu sein; sondern es ist jetzt noch seine Pflicht, sich zu bessern:      
  21 er muß es also auch können und ist, wenn er es nicht thut, der Zurechnung      
  22 in dem Augenblicke der Handlung eben so fähig und unterworfen,      
  23 als ob er, mit der natürlichen Anlage zum Guten (die von der Freiheit      
  24 unzertrennlich ist) begabt, aus dem Stande der Unschuld zum Bösen      
  25 übergeschritten wäre. - Wir können also nicht nach dem Zeitursprunge,      
  26 sondern müssen bloß nach dem Vernunftursprunge dieser That fragen,      
  27 um darnach den Hang, d. i. den subjectiven allgemeinen Grund der Aufnehmung      
  28 einer Übertretung in unsere Maxime, wenn ein solcher ist, zu      
  29 bestimmen und wo möglich zu erklären.      
           
  30 Hiermit stimmt nun die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient,      
  31 den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung      
  32 zu schildern, ganz wohl zusammen: indem sie ihn in einer      
  33 Geschichte vorstellig macht, wo, was der Natur der Sache nach (ohne auf      
  34 Zeitbedingung Rücksicht zu nehmen) als das Erste gedacht werden muß,      
  35 als ein solches der Zeit nach erscheint. Nach ihr fängt das Böse nicht      
  36 von einem zum Grunde liegenden Hange zu demselben an, weil sonst der      
  37 Anfang desselben nicht aus der Freiheit entspringen würde; sondern von      
           
     

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