Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 276

     
           
 

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  01 oder aus Anthropophobie (Menschenscheu), weil man sie als      
  02 seine Feinde fürchtet, theils häßlich, theils verächtlich. Gleichwohl giebt      
  03 es eine (sehr uneigentlich sogenannte) Misanthropie, wozu die Anlage sich      
  04 mit dem Alter in vieler wohldenkenden Menschen Gemüth einzufinden      
  05 pflegt, welche zwar, was das Wohlwollen betrifft, philanthropisch genug      
  06 ist, aber vom Wohlgefallen an Menschen durch eine lange traurige Erfahrung      
  07 weit abgebracht ist: wovon der Hang zur Eingezogenheit, der      
  08 phantastische Wunsch auf einem entlegenen Landsitze, oder auch (bei jungen      
  09 Personen) die erträumte Glückseligkeit auf einem der übrigen Welt      
  10 unbekannten Eilande mit einer kleinen Familie seine Lebenszeit zubringen      
  11 zu können, welche die Romanschreiber oder Dichter der Robinsonaden so      
  12 gut zu nutzen wissen, Zeugniß giebt. Falschheit, Undankbarkeit, Ungerechtigkeit,      
  13 das Kindische in den von uns selbst für wichtig und groß gehaltenen      
  14 Zwecken, in deren Verfolgung sich Menschen selbst unter einander      
  15 alle erdenkliche Übel anthun, stehen mit der Idee dessen, was sie sein könnten,      
  16 wenn sie wollten, so im Widerspruch und sind dem lebhaften Wunsche,      
  17 sie besser zu sehen, so sehr entgegen: daß, um sie nicht zu hassen, da man      
  18 sie nicht lieben kann, die Verzichtthuung auf alle gesellschaftliche Freuden      
  19 nur ein kleines Opfer zu sein scheint. Diese Traurigkeit, nicht über die      
  20 Übel, welche das Schicksal über andere Menschen verhängt (wovon die      
  21 Sympathie Ursache ist), sondern die sie sich selbst anthun (welche auf der      
  22 Antipathie in Grundsätzen beruht), ist, weil sie auf Ideen beruht, erhaben,      
  23 indessen daß die erstere ebenfalls nur für schön gelten kann. - Der eben      
  24 so geistreiche als gründliche Saussure sagt in der Beschreibung seiner      
  25 Alpenreisen von Bonhomme, einem der savoyischen Gebirge: "es herrscht      
  26 daselbst eine gewisse abgeschmackte Traurigkeit." Er kannte daher doch      
  27 auch eine interessante Traurigkeit, welche der Anblick einer Einöde einflößt,      
  28 in die sich Menschen wohl versetzen möchten, um von der Welt nichts      
  29 weiter zu hören, noch zu erfahren, die denn doch nicht so ganz unwirthbar      
  30 sein muß, daß sie nur einen höchst mühseligen Aufenthalt für Menschen      
  31 darböte. - Ich mache diese Anmerkung nur in der Absicht, um zu erinnern,      
  32 daß auch Betrübniß (nicht niedergeschlagene Traurigkeit) zu den      
  33 rüstigen Affecten gezählt werden könne, wenn sie in moralischen Ideen      
  34 ihren Grund hat; wenn sie aber auf Sympathie gegründet und als solche      
  35 auch liebenswürdig ist, sie bloß zu den schmelzenden Affecten gehöre:      
  36 um dadurch auf die Gemüthsstimmung, die nur im ersteren Falle erhaben      
  37 ist, aufmerksam zu machen.      
           
           
     

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