Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 265

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Stimmung des Gemüths zum Gefühl des Erhabenen erfordert      
  02 eine Empfänglichkeit desselben für Ideen; denn eben in der Unangemessenheit      
  03 der Natur zu den letztern, mithin nur unter der Voraussetzung derselben      
  04 und der Anspannung der Einbildungskraft, die Natur als ein      
  05 Schema für die letztern zu behandeln, besteht das Abschreckende für die      
  06 Sinnlichkeit, welches doch zugleich anziehend ist: weil es eine Gewalt ist,      
  07 welche die Vernunft auf jene ausübt, nur um sie ihrem eigentlichen Gebiete      
  08 (dem praktischen) angemessen zu erweitern und sie auf das Unendliche      
  09 hinaussehen zu lassen, welches für jene ein Abgrund ist. In der      
  10 That wird ohne Entwickelung sittlicher Ideen das, was wir, durch Cultur      
  11 vorbereitet, erhaben nennen, dem rohen Menschen bloß abschreckend vorkommen.      
  12 Er wird an den Beweisthümern der Gewalt der Natur in ihrer      
  13 Zerstörung und dem großen Maßstabe ihrer Macht, wogegen die seinige      
  14 in nichts verschwindet, lauter Mühseligkeit, Gefahr und Noth sehen, die      
  15 den Menschen umgeben würden, der dahin gebannt wäre. So nannte der      
  16 gute, übrigens verständige savoyische Bauer (wie Hr. v. Saussure erzählt)      
  17 alle Liebhaber der Eisgebirge ohne Bedenken Narren. Wer weiß auch,      
  18 ob er so ganz Unrecht gehabt hätte, wenn jener Beobachter die Gefahren,      
  19 denen er sich hier aussetzte, bloß, wie die meisten Reisende pflegen, aus      
  20 Liebhaberei, oder um dereinst pathetische Beschreibungen davon geben zu      
  21 können, übernommen hätte? So aber war seine Absicht Belehrung der      
  22 Menschen; und die seelenerhebende Empfindung hatte und gab der vortreffliche      
  23 Mann den Lesern seiner Reisen in ihrem Kauf oben ein.      
           
  24 Darum aber, weil das Urtheil über das Erhabene der Natur Cultur      
  25 bedarf (mehr als das über das Schöne), ist es doch dadurch nicht eben von      
  26 der Cultur zuerst erzeugt und etwa bloß conventionsmäßig in der Gesellschaft      
  27 eingeführt; sondern es hat seine Grundlage in der menschlichen Natur      
  28 und zwar demjenigen, was man mit dem gesunden Verstande zugleich      
  29 jedermann ansinnen und von ihm fordern kann, nämlich in der Anlage      
  30 zum Gefühl für (praktische) Ideen, d. i. zu dem moralischen.      
           
  31 Hierauf gründet sich nun die Nothwendigkeit der Beistimmung des      
  32 Urtheils anderer vom Erhabenen zu dem unsrigen, welche wir in diesem      
  33 zugleich mit einschließen. Denn so wie wir dem, der in der Beurtheilung      
  34 eines Gegenstandes der Natur, welchen wir schön finden, gleichgültig ist,      
  35 Mangel des Geschmacks vorwerfen: so sagen wir von dem, der bei dem,      
  36 was wir erhaben zu sein urtheilen, unbewegt bleibt, er habe kein Gefühl.      
  37 Beides aber fordern wir von jedem Menschen und setzen es auch, wenn      
           
     

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