Kant: AA V, Kritik der Urtheilskraft ... , Seite 210

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Beziehung auf welches wir Gegenstände oder Vorstellungsarten von einander      
  02 unterscheiden. Auch sind die jedem angemessenen Ausdrücke, womit      
  03 man die Complacenz in denselben bezeichnet, nicht einerlei. Angenehm      
  04 heißt jemandem das, was ihn vergnügt; schön, was ihm blos      
  05 gefällt; gut, was geschätzt, gebilligt, d. i. worin von ihm ein objectiver      
  06 Werth gesetzt wird. Annehmlichkeit gilt auch für vernunftlose Thiere;      
  07 Schönheit nur für Menschen, d. i. thierische, aber doch vernünftige Wesen,      
  08 aber auch nicht blos als solche (z. B. Geister), sondern zugleich als thierische;      
  09 das Gute aber für jedes vernünftige Wesen überhaupt; ein Satz,      
  10 der nur in der Folge seine vollständige Rechtfertigung und Erklärung bekommen      
  11 kann. Man kann sagen: daß unter allen diesen drei Arten des      
  12 Wohlgefallens das des Geschmacks am Schönen einzig und allein ein uninteressirtes      
  13 und freies Wohlgefallen sei; denn kein Interesse, weder das      
  14 der Sinne, noch das der Vernunft, zwingt den Beifall ab. Daher könnte      
  15 man von dem Wohlgefallen sagen: es beziehe sich in den drei genannten      
  16 Fällen auf Neigung, oder Gunst, oder Achtung. Denn Gunst ist das      
  17 einzige freie Wohlgefallen. Ein Gegenstand der Neigung und einer, welcher      
  18 durch ein Vernunftgesetz uns zum Begehren auferlegt wird, lassen      
  19 uns keine Freiheit, uns selbst irgend woraus einen Gegenstand der Lust      
  20 zu machen. Alles Interesse setzt Bedürfnis voraus, oder bringt eines      
  21 hervor; und als Bestimmungsgrund des Beifalls läßt es das Urtheil über      
  22 den Gegenstand nicht mehr frei sein.      
           
  23 Was das Interesse der Neigung beim Angenehmen betrifft, so sagt      
  24 jedermann: Hunger ist der beste Koch, und Leuten von gesundem Appetit      
  25 schmeckt alles, was nur eßbar ist; mithin beweiset ein solches Wohlgefallen      
  26 keine Wahl nach Geschmack. Nur wenn das Bedürfniß befriedigt ist, kann      
  27 man unterscheiden, wer unter vielen Geschmack habe, oder nicht. Eben so      
  28 giebt es Sitten ( Conduite ) ohne Tugend, Höflichkeit ohne Wohlwollen, Anständigkeit      
  29 ohne Ehrbarkeit u. s. w. denn wo das sittliche Gesetz spricht,      
  30 da giebt es objectiv weiter keine freie Wahl in Ansehung dessen, was zu      
  31 thun sei; und Geschmack in seiner Aufführung (oder in Beurtheilung anderer      
  32 ihrer) zeigen, ist etwas ganz anderes, als seine moralische Denkungsart      
  33 äußern: denn diese enthält ein Gebot und bringt ein Bedürfniß hervor,      
  34 da hingegen der sittliche Geschmack mit den Gegenständen des Wohlgefallens      
  35 nur spielt, ohne sich an einen zu hängen.      
           
           
     

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