Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 127

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gesetz derselben erforderlich ist, als in diesem Leben völlig erreichbar vorstellten,      
  02 nicht allein das moralische Vermögen des Menschen unter dem      
  03 Namen eines Weisen über alle Schranken seiner Natur hoch gespannt und      
  04 etwas, das aller Menschenkenntniß widerspricht, angenommen, sondern      
  05 auch vornehmlich das zweite zum höchsten Gut gehörige Bestandstück,      
  06 nämlich die Glückseligkeit, gar nicht für einen besonderen Gegenstand des      
  07 menschlichen Begehrungsvermögens wollen gelten lassen, sondern ihren      
  08 Weisen gleich einer Gottheit im Bewußtsein der Vortrefflichkeit seiner      
  09 Person von der Natur (in Absicht auf seine Zufriedenheit) ganz unabhängig      
  10 gemacht, indem sie ihn zwar Übeln des Lebens aussetzten, aber      
  11 nicht unterwarfen (zugleich auch als frei vom Bösen darstellten) und so      
  12 wirklich das zweite Element des höchsten Guts, eigene Glückseligkeit, wegließen,      
  13 indem sie es blos im Handeln und der Zufriedenheit mit seinem      
  14 persönlichen Werthe setzten und also im Bewußtsein der sittlichen Denkungsart      
  15 mit einschlossen, worin sie aber durch die Stimme ihrer eigenen      
  16 Natur hinreichend hätten widerlegt werden können.      
           
  17 Die Lehre des Christenthums*), wenn man sie auch noch nicht als      
  18 Religionslehre betrachtet, giebt in diesem Stücke einen Begriff des höchsten      
           
    *)Man hält gemeiniglich dafür, die christliche Vorschrift der Sitten habe in Ansehung ihrer Reinigkeit vor dem moralischen Begriffe der Stoiker nichts voraus; allein der Unterschied beider ist doch sehr sichtbar. Das stoische System machte das Bewußtsein der Seelenstärke zum Angel, um den sich alle sittliche Gesinnungen wenden sollten, und ob die Anhänger desselben zwar von Pflichten redeten, auch sie ganz wohl bestimmten, so setzten sie doch die Triebfeder und den eigentlichen Bestimmungsgrund des Willens in einer Erhebung der Denkungsart über die niedrige und nur durch Seelenschwäche machthabende Triebfedern der Sinne. Tugend war also bei ihnen ein gewisser Heroism des über die thierische Natur des Menschen sich erhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist, andern zwar Pflichten vorträgt, selbst aber über sie erhaben und keiner Versuchung zu Übertretung des sittlichen Gesetzes unterworfen ist. Dieses alles aber konnten sie nicht thun, wenn sie sich dieses Gesetz in der Reinigkeit und Strenge, als es die Vorschrift des Evangelii thut, vorgestellt hätten. Wenn ich unter einer Idee eine Vollkommenheit verstehe, der nichts in der Erfahrung adäquat gegeben werden kann, so sind die moralischen Ideen darum nichts Überschwengliches, d. i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Begriff hinreichend bestimmen könnten, oder von dem es ungewiß ist, ob ihm überall ein Gegenstand correspondire, wie die Ideen der speculativen Vernunft, sondern dienen als Urbilder der praktischen Vollkommenheit zur unentbehrlichen Richtschnur des sittlichen Verhaltens und zugleich zum Maßstabe der Vergleichung. Wenn ich nun die christliche Moral von ihrer philosophischen Seite betrachte, so würde sie, mit den Ideen [Seitenumbruch] der griechischen Schulen verglichen, so erscheinen: die Ideen der Cyniker, der Epikureer, der Stoiker und der Christen sind: die Natureinfalt, die Klugheit, die Weisheit und die Heiligkeit. In Ansehung des Weges, dazu zu gelangen, unterschieden sich die griechischen Philosophen so von einander, daß die Cyniker dazu den gemeinen Menschenverstand, die andern nur den Weg der Wissenschaft, beide also doch bloßen Gebrauch der natürlichen Kräfte dazu hinreichend fanden. Die christliche Moral, weil sie ihre Vorschrift (wie es auch sein muß) so rein und unnachsichtlich einrichtet, benimmt dem Menschen das Zutrauen, wenigstens hier im Leben, ihr völlig adäquat zu sein, richtet es aber doch auch dadurch wiederum auf, daß, wenn wir so gut handeln, als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß, was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitig werde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, auf welche Art, oder nicht. Aristoteles und Plato unterschieden sich nur in Ansehung des Ursprungs unserer sittlichen Begriffe.      
           
     

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