Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 083

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 heiligen Gesetzes ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben dem Geiste      
  02 nach, wenn gleich der Buchstabe desselben erfüllt würde.      
           
  03 Hiemit stimmt aber die Möglichkeit eines solchen Gebots als: Liebe      
  04 Gott über alles und deinen Nächsten als dich selbst*) ganz wohl      
  05 zusammen. Denn es fordert doch als Gebot Achtung für ein Gesetz, das      
  06 Liebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigen Wahl, sich diese      
  07 zum Princip zu machen. Aber Liebe zu Gott als Neigung (pathologische      
  08 Liebe) ist unmöglich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben dieselbe      
  09 gegen Menschen ist zwar möglich, kann aber nicht geboten werden;      
  10 denn es steht in keines Menschen Vermögen, jemanden blos auf Befehl zu      
  11 lieben. Also ist es blos die praktische Liebe, die in jenem Kern aller      
  12 Gesetze verstanden wird. Gott lieben, heißt in dieser Bedeutung, seine      
  13 Gebote gerne thun; den Nächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn      
  14 gerne ausüben. Das Gebot aber, daß dieses zur Regel macht, kann auch      
  15 nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigen Handlungen zu haben, sondern      
  16 blos darnach zu streben gebieten. Denn ein Gebot, daß man etwas gerne      
  17 thun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir, was uns zu thun obliege,      
  18 schon von selbst wissen, wenn wir uns überdem auch bewußt wären,      
  19 es gerne zu thun, ein Gebot darüber ganz unnöthig, und, thun wir es      
  20 zwar, aber eben nicht gerne, sondern nur aus Achtung fürs Gesetz, ein      
  21 Gebot, welches diese Achtung eben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade      
  22 der gebotenen Gesinnung zuwider wirken würde. Jenes Gesetz aller      
  23 Gesetze stellt also, wie alle moralische Vorschrift des Evangelii, die sittliche      
  24 Gesinnung in ihrer ganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal der      
  25 Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, dennoch das Urbild ist, welchem      
  26 wir uns zu näheren und in einem ununterbrochenen, aber unendlichen      
  27 Progressus gleich zu werden streben sollen. Könnte nämlich ein vernünftig      
  28 Geschöpf jemals dahin kommen, alle moralische Gesetze völlig gerne zu      
  29 thun, so würde das so viel bedeuten als, es fände sich in ihm auch nicht einmal      
  30 die Möglichkeit einer Begierde, die ihn zur Abweichung von ihnen reizte;      
  31 denn die Überwindung einer solchen kostet dem Subject immer Aufopferung,      
  32 bedarf also Selbstzwang, d. i. innere Nöthigung zu dem, was man      
           
    *)Mit diesem Gesetze macht das Princip der eigenen Glückseligkeit, welches einige zum obersten Grundsatze der Sittlichkeit machen wollen, einen seltsamen Contrast; dieses würde so lauten: Liebe dich selbst über alles, Gott aber und deinen Nächsten um dein selbst willen.      
           
     

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