Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 077

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 bückt sich nicht. Ich kann hinzusetzen: Vor einem niedrigen, bürgerlich      
  02 gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem      
  03 gewissen Maße, als ich mir von mir selbst nicht bewußt bin, wahrnehme,      
  04 bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht und den Kopf noch      
  05 so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum      
  06 das? Sein Beispiel hält mir ein Gesetz vor, das meinen Eigendünkel      
  07 niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen      
  08 Befolgung, mithin die Thunlichkeit desselben, ich durch die That bewiesen      
  09 vor mir sehe. Nun mag ich mir sogar eines gleichen Grades der      
  10 Rechtschaffenheit bewußt sein, und die Achtung bleibt doch. Denn da beim      
  11 Menschen immer alles Gute mangelhaft ist, so schlägt das Gesetz, durch      
  12 ein Beispiel anschaulich gemacht, doch immer meinen Stolz nieder, wozu      
  13 der Mann, den ich vor mir sehe, dessen Unlauterkeit, die ihm immer noch      
  14 anhängen mag, mir nicht so wie mir die meinige bekannt ist, der mir also      
  15 in reinerem Lichte erscheint, einen Maßstab abgiebt. Achtung ist ein      
  16 Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen      
  17 wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so      
  18 können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.      
           
  19 Die Achtung ist so wenig ein Gefühl der Lust, daß man sich ihr in      
  20 Ansehung eines Menschen nur ungern überläßt. Man sucht etwas ausfindig      
  21 zu machen, was uns die Last derselben erleichtern könne, irgend      
  22 einen Tadel, um uns wegen der Demüthigung, die uns durch ein solches      
  23 Beispiel widerfährt, schadlos zu halten. Selbst Verstorbene sind, vornehmlich      
  24 wenn ihr Beispiel unnachahmlich scheint, vor dieser Kritik nicht immer      
  25 gesichert. Sogar das moralische Gesetz selbst in seiner feierlichen Majestät      
  26 ist diesem Bestreben, sich der Achtung dagegen zu erwehren, ausgesetzt.      
  27 Meint man wohl, daß es einer anderen Ursache zuzuschreiben sei,      
  28 weswegen man es gern zu unserer vertraulichen Neigung herabwürdigen      
  29 möchte, und sich aus anderen Ursachen alles so bemühe, um es zur beliebten      
  30 Vorschrift unseres eigenen wohlverstandenen Vortheils zu machen, als daß      
  31 man der abschreckenden Achtung, die uns unsere eigene Unwürdigkeit so      
  32 strenge vorhält, los werden möge? Gleichwohl ist darin doch auch wiederum      
  33 so wenig Unlust: daß, wenn man einmal den Eigendünkel abgelegt      
  34 und jener Achtung praktischen Einfluß verstattet hat, man sich wiederum      
  35 an der Herrlichkeit dieses Gesetzes nicht satt sehen kann, und die Seele sich      
  36 in dem Maße selbst zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetz über sich      
  37 und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht. Zwar können große Talente und      
           
     

[ Seite 076 ] [ Seite 078 ] [ Inhaltsverzeichnis ]