Kant: AA V, Kritik der praktischen ... , Seite 036

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 so bald er nur wisse, daß er es unentdeckt und ungehindert thun könne, so gut wie      
  02 sein eigenes wäre: so würdet ihr entweder glauben, der Empfehlende habe euch zum      
  03 besten, oder er habe den Verstand verloren. - So deutlich und scharf sind die      
  04 Grenzen der Sittlichkeit und der Selbstliebe abgeschnitten, daß selbst das gemeinste      
  05 Auge den Unterschied, ob etwas zu der einen oder der andern gehöre, gar nicht verfehlen      
  06 kann. Folgende wenige Bemerkungen können zwar bei einer so offenbaren      
  07 Wahrheit überflüssig scheinen, allein sie dienen doch wenigstens dazu, dem Urtheile      
  08 der gemeinen Menschenvernunft etwas mehr Deutlichkeit zu verschaffen.      
           
  09 Das Princip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche      
  10 abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine      
  11 Glückseligkeit zum Objecte machte. Denn weil dieser ihre Erkenntniß      
  12 auf lauter Erfahrungsdatis beruht, weil jedes Urtheil darüber gar sehr von jedes      
  13 seiner Meinung, die noch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt, so kann es wohl      
  14 generelle, aber niemals universelle Regeln, d. i. solche, die im Durchschnitte      
  15 am öftersten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und nothwendig gültig sein      
  16 müssen, geben, mithin können keine praktische Gesetze darauf gegründet werden.      
  17 Eben darum weil hier ein Object der Willkür der Regel derselben zum Grunde      
  18 gelegt und also vor dieser vorhergehen muß, so kann diese nicht worauf anders      
  19 als auf das, was man empfiehlt, und also auf Erfahrung bezogen und darauf gegründet      
  20 werden, und da muß die Verschiedenheit des Urtheils endlos sein. Dieses      
  21 Princip schreibt also nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselbe praktische Regeln      
  22 vor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit,      
  23 stehen. Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objectiv nothwendig gedacht,      
  24 weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat.      
           
  25 Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) räth blos an; das Gesetz der Sittlichkeit      
  26 gebietet. Es ist aber doch ein großer Unterschied zwischen dem, wozu man      
  27 uns anräthig ist, und dem, wozu wir verbindlich sind.      
           
  28 Was nach dem Princip der Autonomie der Willkür zu thun sei, ist für den      
  29 gemeinsten Verstand ganz leicht und ohne Bedenken einzusehen; was unter Voraussetzung      
  30 der Heteronomie derselben zu thun sei, schwer und erfordert Weltkenntniß;      
  31 d. i. was Pflicht sei, bietet sich jedermann von selbst dar; was aber wahren,      
  32 dauerhaften Vortheil bringe, ist allemal, wenn dieser auf das ganze Dasein erstreckt      
  33 werden soll, in undurchdringliches Dunkel eingehüllt und erfordert viel Klugheit,      
  34 um die praktische darauf gestimmte Regel durch geschickte Ausnahmen auch nur auf      
  35 erträgliche Art den Zwecken des Lebens anzupassen. Gleichwohl gebietet das sittliche      
  36 Gesetz jedermann, und zwar die pünktlichste, Befolgung. Es muß also zu der      
  37 Beurtheilung dessen, was nach ihm zu thun sei, nicht so schwer sein, daß nicht der      
  38 gemeinste und ungeübteste Verstand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehen      
  39 wüßte.      
           
  40 Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge zu leisten, ist in jedes Gewalt      
           
     

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