Kant: AA IV, Metaphysische Anfangsgründe ... , Seite 533

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Mathematik am fügsamsten ist, hat unter dem Namen der Atomistik oder Corpuscularphilosophie      
  02 mit weniger Abänderung vom alten Demokrit an      
  03 bis auf Cartesen und selbst bis zu unseren Zeiten immer ihr Ansehen und Einfluß      
  04 auf die Principien der Naturwissenschaft erhalten. Das Wesentliche derselben      
  05 besteht in der Voraussetzung der absoluten Undurchdringlichkeit      
  06 der primitiven Materie, in der absoluten Gleichartigkeit dieses Stoffs und      
  07 dem allein übrig gelassenen Unterschiede in der Gestalt und in der absoluten      
  08 Unüberwindlichkeit des Zusammenhanges der Materie in diesen Grundkörperchen      
  09 selbst. Dies waren die Materialien zu Erzeugung der specifisch      
  10 verschiedenen Materien, um nicht allein zu der Unveränderlichkeit der Gattungen      
  11 und Arten einen unveränderlichen und gleichwohl verschiedentlich gestalteten      
  12 Grundstoff bei Hand zu haben, sondern auch aus der Gestalt dieser ersten Theile,      
  13 als Maschinen (denen nichts weiter als eine äußerlich eingedrückte Kraft fehlte),      
  14 die mancherlei Naturwirkungen mechanisch zu erklären. Die erste und vornehmste      
  15 Beglaubigung dieses Systems aber beruht auf der vorgeblich unvermeidlichen      
  16 Nothwendigkeit, zum specifischen Unterschiede der Dichtigkeit      
  17 der Materien leere Räume zu brauchen, die man innerhalb der Materien      
  18 und zwischen jenen Partikeln vertheilt, in einer Proportion, wie man sie      
  19 nöthig fand, zum Behuf einiger Erscheinungen gar so groß, daß der erfüllte Theil      
  20 des Volumens auch der dichtesten Materie gegen den leeren beinahe für nichts zu      
  21 halten ist, annahm. - Um nun eine dynamische Erklärungsart einzuführen (die      
  22 der Experimentalphilosophie weit angemessener und beförderlicher ist, indem sie      
  23 geradezu darauf leitet, die den Materien eigene bewegende Kräfte und deren Gesetze      
  24 auszufinden, die Freiheit dagegen einschränkt, leere Zwischenräume und      
  25 Grundkörperchen von bestimmten Gestalten anzunehmen, die sich beide durch kein      
  26 Experiment bestimmen und ausfindig machen lassen), ist es gar nicht nöthig neue      
  27 Hypothesen zu schmieden, sondern allein das Postulat der blos mechanischen Erklärungsart:      
  28 daß es unmöglich sei, sich einen specifischen Unterschied      
  29 der Dichtigkeit der Materien ohne Beimischung leerer Räume zu      
  30 denken, durch die bloße Anführung einer Art, wie er sich ohne Widerspruch      
  31 denken lasse, zu widerlegen. Denn wenn das gedachte Postulat, worauf die blos      
  32 mechanische Erklärungsart fußt, nur erst als Grundsatz für ungültig erklärt worden,      
  33 so versteht es sich von selbst, daß man es als Hypothese in der Naturwissenschaft      
  34 nicht aufnehmen müsse, so lange noch eine Möglichkeit übrig bleibt, den      
  35 specifischen Unterschied der Dichtigkeiten sich auch ohne alle leere Zwischenräume      
  36 zu denken. Diese Nothwendigkeit aber beruht darauf, daß die Materie nicht (wie      
  37 blos mechanische Naturforscher annehmen) durch absolute Undurchdringlichkeit      
  38 ihren Raum erfüllt, sondern durch repulsive Kraft, die ihren Grad hat, der in verschiedenen      
  39 Materien verschieden sein kann, und, da er für sich nichts mit der Anziehungskraft,      
  40 welche der Quantität der Materie gemäß ist, gemein hat, sie bei      
           
     

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