Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 455 |
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| 01 | glaubt er aber zu sein, wenn er sich in den Standpunkt eines Gliedes | ||||||
| 02 | der Verstandeswelt versetzt, dazu die Idee der Freiheit, d. i. Unabhängigkeit | ||||||
| 03 | von bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt, ihn unwillkürlich | ||||||
| 04 | nöthigt, und in welchem er sich eines guten Willens bewußt ist, der für | ||||||
| 05 | seinen bösen Willen als Gliedes der Sinnenwelt nach seinem eigenen Geständnisse | ||||||
| 06 | das Gesetz ausmacht, dessen Ansehen er kennt, indem er es übertritt. | ||||||
| 07 | Das moralische Sollen ist also eigenes nothwendiges Wollen als | ||||||
| 08 | Gliedes einer intelligibelen Welt und wird nur so fern von ihm als Sollen | ||||||
| 09 | gedacht, als er sich zugleich wie ein Glied der Sinnenwelt betrachtet. | ||||||
| 10 | Von der äußersten Grenze aller praktischen Philosophie. |
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| 11 | Alle Menschen denken sich dem Willen nach als frei. Daher kommen | ||||||
| 12 | alle Urtheile über Handlungen als solche, die hätten geschehen sollen, | ||||||
| 13 | ob sie gleich nicht geschehen sind. Gleichwohl ist diese Freiheit kein | ||||||
| 14 | Erfahrungsbegriff und kann es auch nicht sein, weil er immer bleibt, obgleich | ||||||
| 15 | die Erfahrung das Gegentheil von denjenigen Forderungen zeigt, | ||||||
| 16 | die unter Voraussetzung derselben als nothwendig vorgestellt werden. | ||||||
| 17 | Auf der anderen Seite ist es eben so nothwendig, daß alles, was geschieht, | ||||||
| 18 | nach Naturgesetzen unausbleiblich bestimmt sei, und diese Naturnothwendigkeit | ||||||
| 19 | ist auch kein Erfahrungsbegriff, eben darum weil er den Begriff | ||||||
| 20 | der Nothwendigkeit, mithin einer Erkenntniß a priori bei sich führt. | ||||||
| 21 | Aber dieser Begriff von einer Natur wird durch Erfahrung bestätigt und | ||||||
| 22 | muß selbst unvermeidlich vorausgesetzt werden, wenn Erfahrung, d. i. nach | ||||||
| 23 | allgemeinen Gesetzen zusammenhängende Erkenntniß der Gegenstände der | ||||||
| 24 | Sinne, möglich sein soll. Daher ist Freiheit nur eine Idee der Vernunft, | ||||||
| 25 | deren objective Realität an sich zweifelhaft ist, Natur aber ein Verstandesbegriff, | ||||||
| 26 | der seine Realität an Beispielen der Erfahrung beweiset | ||||||
| 27 | und nothwendig beweisen muß. | ||||||
| 28 | Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in | ||||||
| 29 | Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnothwendigkeit | ||||||
| 30 | im Widerspruch zu stehen scheint, und bei dieser Wegescheidung | ||||||
| 31 | die Vernunft in speculativer Absicht den Weg der Naturnothwendigkeit | ||||||
| 32 | viel gebähnter und brauchbarer findet, als den der Freiheit: so ist doch | ||||||
| 33 | in praktischer Absicht der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem | ||||||
| 34 | es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Thun und Lassen | ||||||
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