Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 423

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Cultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen      
  02 könnte. Er sieht sich aber in bequemen Umständen und zieht vor, lieber      
  03 dem Vergnügen nachzuhängen, als sich mit Erweiterung und Verbesserung      
  04 seiner glücklichen Naturanlagen zu bemühen. Noch frägt er aber: ob außer      
  05 der Übereinstimmung, die seine Maxime der Verwahrlosung seiner Naturgaben      
  06 mit seinem Hange zur Ergötzlichkeit an sich hat, sie auch mit dem,      
  07 was man Pflicht nennt, übereinstimme. Da sieht er nun, daß zwar eine      
  08 Natur nach einem solchen allgemeinen Gesetze immer noch bestehen könne,      
  09 obgleich der Mensch (so wie die Südsee=Einwohner) sein Talent rosten      
  10 ließe und sein Leben bloß auf Müßiggang, Ergötzlichkeit, Fortpflanzung,      
  11 mit einem Wort auf Genuß zu verwenden bedacht wäre; allein er kann unmöglich      
  12 wollen, daß dieses ein allgemeines Naturgesetz werde, oder als      
  13 ein solches in uns durch Naturinstinct gelegt sei. Denn als ein vernünftiges      
  14 Wesen will er nothwendig, daß alle Vermögen in ihm entwickelt      
  15 werden, weil sie ihm doch zu allerlei möglichen Absichten dienlich und gegeben      
  16 sind.      
           
  17 Noch denkt ein vierter, dem es wohl geht, indessen er sieht, daß andere      
  18 mit großen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl      
  19 helfen könnte): was gehts mich an? Mag doch ein jeder so glücklich sein,      
  20 als es der Himmel will, oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm      
  21 nichts entziehen, ja nicht einmal beneiden; nur zu seinem Wohlbefinden      
  22 oder seinem Beistande in der Noth habe ich nicht Lust etwas beizutragen!      
  23 Nun könnte allerdings, wenn eine solche Denkungsart ein allgemeines      
  24 Naturgesetz würde, das menschliche Geschlecht gar wohl bestehen und ohne      
  25 Zweifel noch besser, als wenn jedermann von Theilnehmung und Wohlwollen      
  26 schwatzt, auch sich beeifert, gelegentlich dergleichen auszuüben, dagegen      
  27 aber auch, wo er nur kann, betrügt, das Recht der Menschen verkauft,      
  28 oder ihm sonst Abbruch thut. Aber obgleich es möglich ist, daß      
  29 nach jener Maxime ein allgemeines Naturgesetz wohl bestehen könnte: so      
  30 ist es doch unmöglich, zu wollen, daß ein solches Princip als Naturgesetz      
  31 allenthalben gelte. Denn ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst      
  32 widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche eräugnen können, wo er      
  33 anderer Liebe und Theilnehmung Bedarf, und wo er durch ein solches aus      
  34 seinem eigenen Willen entsprungenes Naturgesetz sich selbst alle Hoffnung      
  35 des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde.      
           
  36 Dieses sind nun einige von den vielen wirklichen oder wenigstens von      
  37 uns dafür gehaltenen Pflichten, deren Abtheilung aus dem einigen angeführten      
           
     

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