Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 408 |
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| 01 | entsprungen wären, dennoch hier auch davon gar nicht die Rede sei, ob | ||||||
| 02 | dies oder jenes geschehe, sondern die Vernunft für sich selbst und unabhängig | ||||||
| 03 | von allen Erscheinungen gebiete, was geschehen soll, mithin Handlungen, | ||||||
| 04 | von denen die Welt vielleicht bisher noch gar kein Beispiel gegeben | ||||||
| 05 | hat, an deren Thunlichkeit sogar der, so alles auf Erfahrung gründet, | ||||||
| 06 | sehr zweifeln möchte, dennoch durch Vernunft unnachlaßlich geboten seien, | ||||||
| 07 | und daß z. B. reine Redlichkeit in der Freundschaft um nichts weniger | ||||||
| 08 | von jedem Menschen gefordert werden könne, wenn es gleich bis jetzt gar | ||||||
| 09 | keinen redlichen Freund gegeben haben möchte, weil diese Pflicht als Pflicht | ||||||
| 10 | überhaupt vor aller Erfahrung in der Idee einer den Willen durch Gründe | ||||||
| 11 | a priori bestimmenden Vernunft liegt. | ||||||
| 12 | Setzt man hinzu, daß, wenn man dem Begriffe von Sittlichkeit nicht | ||||||
| 13 | gar alle Wahrheit und Beziehung auf irgend ein mögliches Object bestreiten | ||||||
| 14 | will, man nicht in Abrede ziehen könne, daß sein Gesetz von so ausgebreiteter | ||||||
| 15 | Bedeutung sei, daß es nicht bloß für Menschen, sondern alle | ||||||
| 16 | vernünftige Wesen überhaupt, nicht bloß unter zufälligen Bedingungen | ||||||
| 17 | und mit Ausnahmen, sondern schlechterdings nothwendig | ||||||
| 18 | gelten müsse: so ist klar, daß keine Erfahrung, auch nur auf die Möglichkeit | ||||||
| 19 | solcher apodiktischen Gesetze zu schließen, Anlaß geben könne. Denn | ||||||
| 20 | mit welchem Rechte können wir das, was vielleicht nur unter den zufälligen | ||||||
| 21 | Bedingungen der Menschheit gültig ist, als allgemeine Vorschrift für | ||||||
| 22 | jede vernünftige Natur in unbeschränkte Achtung bringen, und wie sollen | ||||||
| 23 | Gesetze der Bestimmung unseres Willens für Gesetze der Bestimmung des | ||||||
| 24 | Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt und nur als solche auch für | ||||||
| 25 | den unsrigen gehalten werden, wenn sie bloß empirisch wären und nicht | ||||||
| 26 | völlig a priori aus reiner, aber praktischer Vernunft ihren Ursprung | ||||||
| 27 | nähmen? | ||||||
| 28 | Man könnte auch der Sittlichkeit nicht übler rathen, als wenn man | ||||||
| 29 | sie von Beispielen entlehnen wollte. Denn jedes Beispiel, was mir davon | ||||||
| 30 | vorgestellt wird, muß selbst zuvor nach Principien der Moralität beurtheilt | ||||||
| 31 | werden, ob es auch würdig sei, zum ursprünglichen Beispiele, d. i. | ||||||
| 32 | zum Muster, zu dienen, keinesweges aber kann es den Begriff derselben zu | ||||||
| 33 | oberst an die Hand geben. Selbst der Heilige des Evangelii muß zuvor | ||||||
| 34 | mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe | ||||||
| 35 | man ihn dafür erkennt; auch sagt er von sich selbst: was nennt ihr mich | ||||||
| 36 | (den ihr sehet) gut? Niemand ist gut (das Urbild des Guten) als der einige | ||||||
| 37 | Gott (den ihr nicht sehet). Woher aber haben wir den Begriff von Gott | ||||||
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