Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 402

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Was kann das aber wohl für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch      
  02 ohne auf die daraus erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen      
  03 bestimmen muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut      
  04 heißen könne? Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm      
  05 aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt      
  06 nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig,      
  07 welche allein dem Willen zum Princip dienen soll, d. i. ich soll niemals      
  08 anders verfahren als so, daß ich auch wollen könne, meine      
  09 Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden. Hier ist nun die      
  10 bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend ein auf gewisse Handlungen      
  11 bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das, was dem Willen zum Princip      
  12 dient und ihm auch dazu dienen muß, wenn Pflicht nicht überall ein      
  13 leerer Wahn und chimärischer Begriff sein soll; hiemit stimmt die gemeine      
  14 Menschenvernunft in ihrer praktischen Beurtheilung auch vollkommen überein      
  15 und hat das gedachte Princip jederzeit vor Augen.      
           
  16 Die Frage sei z. B.: darf ich, wenn ich im Gedränge bin, nicht ein      
  17 Versprechen thun, in der Absicht, es nicht zu halten? Ich mache hier leicht      
  18 den Unterschied, den die Bedeutung der Frage haben kann, ob es klüglich,      
  19 oder ob es pflichtmäßig sei, ein falsches Versprechen zu thun. Das erstere      
  20 kann ohne Zweifel öfters stattfinden. Zwar sehe ich wohl, daß es nicht      
  21 gnug sei, mich vermittelst dieser Ausflucht aus einer gegenwärtigen Verlegenheit      
  22 zu ziehen, sondern wohl überlegt werden müsse, ob mir aus dieser      
  23 Lüge nicht hinterher viel größere Ungelegenheit entspringen könne, als      
  24 die sind, von denen ich mich jetzt befreie, und, da die Folgen bei aller      
  25 meiner vermeinten Schlauigkeit nicht so leicht vorauszusehen sind, daß      
  26 nicht ein einmal verlornes Zutrauen mir weit nachtheiliger werden könnte      
  27 als alles Übel, das ich jetzt zu vermeiden gedenke, ob es nicht klüglicher      
  28 gehandelt sei, hiebei nach einer allgemeinen Maxime zu verfahren und es      
  29 sich zur Gewohnheit zu machen, nichts zu versprechen als in der Absicht,      
  30 es zu halten. Allein es leuchtet mir hier bald ein, daß eine solche Maxime      
  31 doch immer nur die besorglichen Folgen zum Grunde habe. Nun ist es      
  32 doch etwas ganz anderes, aus Pflicht wahrhaft zu sein, als aus Besorgni      
  33 der nachtheiligen Folgen: indem im ersten Falle der Begriff der Handlung      
  34 an sich selbst schon ein Gesetz für mich enthält, im zweiten ich mich allererst      
  35 anderwärtsher umsehen muß, welche Wirkungen für mich wohl damit      
  36 verbunden sein möchten. Denn wenn ich von dem Princip der Pflicht abweiche,      
  37 so ist es ganz gewiß böse; werde ich aber meiner Maxime der      
           
     

[ Seite 401 ] [ Seite 403 ] [ Inhaltsverzeichnis ]