Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 398

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Gehalt. Sie bewahren ihr Leben zwar pflichtmäßig, aber nicht aus      
  02 Pflicht. Dagegen wenn Widerwärtigkeiten und hoffnungsloser Gram      
  03 den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben; wenn der Unglückliche,      
  04 stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmüthig      
  05 oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und sein Leben doch erhält,      
  06 ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht:      
  07 alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.      
           
  08 Wohlthätig sein, wo man kann, ist Pflicht, und überdem giebt es      
  09 manche so theilnehmend gestimmte Seelen, daß sie auch ohne einen andern      
  10 Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes ein inneres Vergnügen      
  11 daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufriedenheit      
  12 anderer, so fern sie ihr Werk ist, ergötzen können. Aber ich behaupte,      
  13 daß in solchem Falle dergleichen Handlung, so pflichtmäßig, so      
  14 liebenswürdig sie auch ist, dennoch keinen wahren sittlichen Werth habe,      
  15 sondern mit andern Neigungen zu gleichen Paaren gehe, z. E. der Neigung      
  16 nach Ehre, die, wenn sie glücklicherweise auf das trifft, was in der That      
  17 gemeinnützig und pflichtmäßig, mithin ehrenwerth ist, Lob und Aufmunterung,      
  18 aber nicht Hochschätzung verdient; denn der Maxime fehlt der sittliche      
  19 Gehalt, nämlich solche Handlungen nicht aus Neigung, sondern aus      
  20 Pflicht zu thun. Gesetzt also, das Gemüth jenes Menschenfreundes wäre      
  21 vom eigenen Gram umwölkt, der alle Theilnehmung an anderer Schicksal      
  22 auslöscht, er hätte immer noch Vermögen, andern nothleidenden wohlzuthun,      
  23 aber fremde Noth rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen gnug      
  24 beschäftigt ist, und nun, da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er      
  25 sich doch aus dieser tödtlichen Unempfindlichkeit heraus und thäte die      
  26 Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdann hat sie allererst      
  27 ihren ächten moralischen Werth. Noch mehr: wenn die Natur diesem      
  28 oder jenem überhaupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er      
  29 (übrigens ein ehrlicher Mann) von Temperament kalt und gleichgültig      
  30 gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht weil er, selbst gegen seine eigene      
  31 mit der besondern Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke versehen,      
  32 dergleichen bei jedem andern auch voraussetzt, oder gar fordert; wenn die      
  33 Natur einen solchen Mann (welcher wahrlich nicht ihr schlechtestes Product      
  34 sein würde) nicht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet hätte, würde      
  35 er denn nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit höhern      
  36 Werth zu geben, als der eines gutartigen Temperaments sein mag?      
  37 Allerdings! gerade da hebt der Werth des Charakters an, der moralisch      
           
     

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