Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 395

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Vernunft zur Regiererin beigelegt habe, falsch verstanden sein möge. Daher      
  02 wollen wir diese Idee aus diesem Gesichtspunkte auf die Prüfung      
  03 stellen.      
           
  04 In den Naturanlagen eines organisirten, d. i. zweckmäßig zum Leben      
  05 eingerichteten, Wesens nehmen wir es als Grundsatz an, daß kein Werkzeug      
  06 zu irgend einem Zwecke in demselben angetroffen werde, als was auch      
  07 zu demselben das schicklichste und ihm am meisten angemessen ist. Wäre      
  08 nun an einem Wesen, das Vernunft und einen Willen hat, seine Erhaltung,      
  09 sein Wohlergehen, mit einem Worte seine Glückseligkeit, der      
  10 eigentliche Zweck der Natur, so hätte sie ihre Veranstaltung dazu sehr      
  11 schlecht getroffen, sich die Vernunft des Geschöpfs zur Ausrichterin dieser      
  12 ihrer Absicht zu ersehen. Denn alle Handlungen, die es in dieser Absicht      
  13 auszuüben hat, und die ganze Regel seines Verhaltens würden ihm weit      
  14 genauer durch Instinct vorgezeichnet und jener Zweck weit sicherer dadurch      
  15 haben erhalten werden können, als es jemals durch Vernunft geschehen      
  16 kann, und sollte diese ja obenein dem begünstigten Geschöpf ertheilt worden      
  17 sein, so würde sie ihm nur dazu haben dienen müssen, um über die      
  18 glückliche Anlage seiner Natur Betrachtungen anzustellen, sie zu bewundern,      
  19 sich ihrer zu erfreuen und der wohlthätigen Ursache dafür dankbar      
  20 zu sein; nicht aber, um sein Begehrungsvermögen jener schwachen und      
  21 trüglichen Leitung zu unterwerfen und in der Naturabsicht zu pfuschen;      
  22 mit einem Worte, sie würde verhütet haben, daß Vernunft nicht in praktischen      
  23 Gebrauch ausschlüge und die Vermessenheit hätte, mit ihren      
  24 schwachen Einsichten ihr selbst den Entwurf der Glückseligkeit und der      
  25 Mittel dazu zu gelangen auszudenken; die Natur würde nicht allein die      
  26 Wahl der Zwecke, sondern auch der Mittel selbst übernommen und beide      
  27 mit weiser Vorsorge lediglich dem Instincte anvertraut haben.      
           
  28 In der That finden wir auch, daß, je mehr eine cultivirte Vernunft      
  29 sich mit der Absicht auf den Genuß des Lebens und der Glückseligkeit abgiebt,      
  30 desto weiter der Mensch von der wahren Zufriedenheit abkomme,      
  31 woraus bei vielen und zwar den Versuchtesten im Gebrauche derselben,      
  32 wenn sie nur aufrichtig genug sind, es zu gestehen, ein gewisser Grad von      
  33 Misologie, d. i. Haß der Vernunft, entspringt, weil sie nach dem Überschlage      
  34 alles Vortheils, den sie, ich will nicht sagen von der Erfindung      
  35 aller Künste des gemeinen Luxus, sondern sogar von den Wissenschaften      
  36 (die ihnen am Ende auch ein Luxus des Verstandes zu sein scheinen) ziehen,      
  37 dennoch finden, daß sie sich in der That nur mehr Mühseligkeit auf      
           
     

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