Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 314

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 weil sie über die Natur und selbst die Möglichkeit eines solchen reinen      
  02 Verstandes niemals entweder nachgedacht hatten oder nachzudenken vermochten.      
           
  04 Mancher Naturalist der reinen Vernunft (darunter ich den verstehe,      
  05 welcher sich zutraut, ohne alle Wissenschaft in Sachen der Metaphysik zu      
  06 entscheiden) möchte wohl vorgeben, er habe das, was hier mit so viel Zurüstung,      
  07 oder, wenn er lieber will, mit weitschweifigem pedantischen Pompe      
  08 vorgetragen worden, schon längst durch den Wahrsagergeist seiner gesunden      
  09 Vernunft nicht blos vermuthet, sondern auch gewußt und eingesehen:      
  10 "daß wir nämlich mit aller unserer Vernunft über das Feld der Erfahrungen      
  11 nie hinaus kommen können". Allein da er doch, wenn man ihm      
  12 seine Vernunftprincipien allmählig abfrägt, gestehen muß, daß darunter      
  13 viele sind, die er nicht aus Erfahrung geschöpft hat, die also von dieser      
  14 unabhängig und a priori gültig sind, wie und mit welchen Gründen will      
  15 er denn den Dogmatiker und sich selbst in Schranken halten, der sich dieser      
  16 Begriffe und Grundsätze über alle mögliche Erfahrung hinaus bedient,      
  17 darum eben weil sie unabhängig von dieser erkannt werden. Und selbst      
  18 er, dieser Adept der gesunden Vernunft, ist so sicher nicht, ungeachtet aller      
  19 seiner angemaßten, wohlfeil erworbenen Weisheit, unvermerkt über Gegenstände      
  20 der Erfahrung hinaus in das Feld der Hirngespinste zu gerathen.      
  21 Auch ist er gemeiniglich tief gnug drin verwickelt, ob er zwar durch      
  22 die populäre Sprache, da er alles blos für Wahrscheinlichkeit, vernünftige      
  23 Vermuthung oder Analogie ausgiebt, seinen grundlosen Ansprüchen einigen      
  24 Anstrich giebt.      
           
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§ 32.
     
           
  26 Schon von den ältesten Zeiten der Philosophie her haben sich Forscher      
  27 der reinen Vernunft außer den Sinnenwesen oder Erscheinungen ( phaenomena ),      
  28 die die Sinnenwelt ausmachen, noch besondere Verstandeswesen      
  29 ( noumena ), welche eine Verstandeswelt ausmachen sollten, gedacht, und      
  30 da sie ( welches einem noch unausgebildeten Zeitalter wohl zu verzeihen      
  31 war) Erscheinung und Schein für einerlei hielten, den Verstandeswesen      
  32 allein Wirklichkeit zugestanden.      
           
  33 In der That, wenn wir die Gegenstände der Sinne wie billig als      
  34 bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß      
  35 ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich      
  36 nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d. i. die      
           
     

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