Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 276

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Wir dürfen aber die Möglichkeit solcher Sätze hier nicht zuerst      
  02 suchen, d. i. fragen, ob sie möglich seien. Denn es sind deren gnug und      
  03 zwar mit unstreitiger Gewißheit wirklich gegeben, und da die Methode,      
  04 die wir jetzt befolgen, analytisch sein soll, so werden wir davon anfangen,      
  05 daß dergleichen synthetische, aber reine Vernunfterkenntniß wirklich sei;      
  06 aber alsdann müssen wir den Grund dieser Möglichkeit dennoch untersuchen      
  07 und fragen, wie diese Erkenntniß möglich sei, damit wir aus den      
  08 Principien ihrer Möglichkeit die Bedingungen ihres Gebrauchs, den Umfang      
  09 und die Grenzen desselben zu bestimmen in Stand gesetzt werden.      
  10 Die eigentliche, mit schulgerechter Präcision ausgedrückte Aufgabe, auf      
  11 die alles ankommt, ist also:      
           
  12
Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?
     
           
  13 Ich habe sie oben der Popularität zu Gefallen etwas anders, nämlich      
  14 als eine Frage nach dem Erkenntniß aus reiner Vernunft, ausgedrückt,      
  15 welches ich dieses mal ohne Nachtheil der gesuchten Einsicht wohl thun      
  16 konnte: weil, da es hier doch lediglich um die Metaphysik und deren Quellen      
  17 zu thun ist, man nach den vorher gemachten Erinnerungen sich, wie      
  18 ich hoffe, jederzeit erinnern wird, daß, wenn wir hier von Erkenntniß aus      
  19 reiner Vernunft reden, niemals von der analytischen, sondern lediglich der      
  20 synthetischen die Rede sei.*)      
           
  21 Auf die Auflösung dieser Aufgabe nun kommt das Stehen oder Fallen      
  22 der Metaphysik und also ihre Existenz gänzlich an. Es mag jemand seine      
  23 Behauptungen in derselben mit noch so großem Schein vortragen, Schlüsse      
           
    *) Es ist unmöglich zu verhüten, daß, wenn die Erkenntniß nach und nach weiter fortrückt, nicht gewisse schon classisch gewordne Ausdrücke, die noch von dem Kindheitsalter der Wissenschaft her sind, in der Folge sollten unzureichend und übel anpassend gefunden werden, und ein gewisser neuer und mehr angemessener Gebrauch mit dem alten in einige Gefahr der Verwechselung gerathen sollte. Analytische Methode, sofern sie der synthetischen entgegengesetzt ist, ist ganz was anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze: sie bedeutet nur, daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich. In dieser Lehrart bedient man sich öfters lauter synthetischer Sätze, wie die mathematische Analysis davon ein Beispiel giebt; und sie könnte besser die regressive Lehrart zum Unterschiede von der synthetischen oder progressiven heißen. Noch kommt der Name Analytik auch als ein Haupttheil der Logik vor, und da ist es die Logik der Wahrheit und wird der Dialektik entgegengesetzt, ohne eigentlich darauf zu sehen, ob die zu jener gehörige Erkenntnisse analytisch oder synthetisch seien.      
           
     

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