Kant: AA IV, Prolegomena zu einer jeden ... , Seite 268

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 1) Erfahrungsurtheile sind jederzeit synthetisch. Denn es wäre      
  02 ungereimt, ein analytisches Urtheil auf Erfahrung zu gründen, da ich doch      
  03 aus meinem Begriffe gar nicht hinausgehen darf, um das Urtheil abzufassen,      
  04 und also kein Zeugniß der Erfahrung dazu nöthig habe. Daß ein      
  05 Körper ausgedehnt sei, ist ein Satz, der a priori feststeht, und kein Erfahrungsurtheil.      
  06 Denn ehe ich zur Erfahrung gehe, habe ich alle Bedingungen      
  07 zu meinem Urtheile schon in dem Begriffe, aus welchem ich das      
  08 Prädicat nach dem Satze des Widerspruchs nur herausziehen und dadurch      
  09 zugleich der Nothwendigkeit des Urtheils bewußt werden kann, welche      
  10 mir Erfahrung nicht einmal lehren würde.      
           
  11 2) Mathematische Urtheile sind insgesammt synthetisch. Dieser      
  12 Satz scheint den Bemerkungen der Zergliederer der menschlichen Vernunft      
  13 bisher ganz entgangen, ja allen ihren Vermutungen gerade entgegengesetzt      
  14 zu sein, ob er gleich unwidersprechlich gewiß und in der Folge      
  15 sehr wichtig ist. Denn weil man fand, daß die Schlüsse der Mathematiker      
  16 alle nach dem Satze des Widerspruches fortgehen (welches die Natur      
  17 einer jeden apodiktischen Gewißheit erfordert), so überredete man sich, daß      
  18 auch die Grundsätze aus dem Satze des Widerspruchs erkannt würden,      
  19 worin sie sich sehr irrten; denn ein synthetischer Satz kann allerdings nach      
  20 dem Satze des Widerspruchs eingesehen werden, aber nur so, daß ein anderer      
  21 synthetischer Satz vorausgesetzt wird, aus dem er gefolgert werden      
  22 kann, niemals aber an sich selbst.      
           
  23 Zuvörderst muß bemerkt werden: daß eigentliche mathematische Sätze      
  24 jederzeit Urtheile a priori und nicht empirisch sind, weil sie Nothwendigkeit      
  25 bei sich führen, welche aus Erfahrung nicht abgenommen werden kann. Will      
  26 man mir aber dieses nicht einräumen, wohlan so schränke ich meinen Satz      
  27 auf die reine Mathematik ein, deren Begriff es schon mit sich bringt,      
  28 daß sie nicht empirische, sondern blos reine Erkenntniß a priori enthalte.      
           
  29 Man sollte anfänglich wohl denken, daß der Satz 7+5 = 12 ein      
  30 blos analytischer Satz sei, der aus dem Begriffe einer Summe von Sieben      
  31 und Fünf nach dem Satze des Widerspruches erfolge. Allein wenn man es      
  32 näher betrachtet, so findet man, daß der Begriff der Summe von 7 und 5      
  33 nichts weiter enthalte, als die Vereinigung beider Zahlen in eine einzige,      
  34 wodurch ganz und gar nicht gedacht wird, welches diese einzige Zahl sei, die      
  35 beide zusammenfaßt. Der Begriff von Zwölf ist keinesweges dadurch schon      
  36 gedacht, daß ich mir blos jene Vereinigung von Sieben und Fünf denke;      
  37 und ich mag meinen Begriff von einer solchen möglichen Summe noch so      
           
     

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