Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 223

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 nach eben sowohl auf die collective Einheit der daran mitwirkenden      
  02 Substanzen beziehen (wie die Bewegung eines Körpers die zusammengesetzte      
  03 Bewegung aller Theile desselben ist), als auf die absolute Einheit      
  04 des Subjects. Nach der Regel der Identität kann also die Nothwendigkeit      
  05 der Voraussetzung einer einfachen Substanz bei einem zusammengesetzten      
  06 Gedanken nicht eingesehen werden. Daß aber eben derselbe Satz synthetisch      
  07 und völlig a priori aus lauter Begriffen erkannt werden solle, das wird      
  08 sich niemand zu verantworten getrauen, der den Grund der Möglichkeit      
  09 synthetischer Sätze a priori, so wie wir ihn oben dargelegt haben, einsieht.      
           
  10 Nun ist es aber auch unmöglich, diese nothwendige Einheit des Subjects      
  11 als die Bedingung der Möglichkeit eines jeden Gedankens aus der      
  12 Erfahrung abzuleiten. Denn diese giebt keine Nothwendigkeit zu erkennen,      
  13 geschweige daß der Begriff der absoluten Einheit weit über ihre Sphäre      
  14 ist. Woher nehmen wir denn diesen Satz, worauf sich der ganze psychologische      
  15 Vernunftschluß stützt?      
           
  16 Es ist offenbar: daß, wenn man sich ein denkend Wesen vorstellen      
  17 will, man sich selbst an seine Stelle setzen und also dem Objecte, welches      
  18 man erwägen wollte, sein eigenes Subject unterschieben müsse (welches      
  19 in keiner anderen Art der Nachforschung der Fall ist), und daß wir nur      
  20 darum absolute Einheit des Subjects zu einem Gedanken erfordern, weil      
  21 sonst nicht gesagt werden könnte: Ich denke (das Mannigfaltige in einer      
  22 Vorstellung). Denn obgleich das Ganze des Gedanken getheilt und unter      
  23 viele Subjecte vertheilt werden könnte, so kann doch das subjective Ich      
  24 nicht getheilt und vertheilt werden, und dieses setzen wir doch bei allem      
  25 Denken voraus.      
           
  26 Also bleibt eben so hier, wie in dem vorigen Paralogism der formale      
  27 Satz der Apperception: Ich denke, der ganze Grund, auf welchen die      
  28 rationale Psychologie die Erweiterung ihrer Erkenntnisse wagt, welcher      
  29 Satz zwar freilich keine Erfahrung ist, sondern die Form der Apperception,      
  30 die jeder Erfahrung anhängt und ihr vorgeht, gleichwohl aber nur immer      
  31 in Ansehung einer möglichen Erkenntniß überhaupt als blos subjective      
  32 Bedingung derselben angesehen werden muß, die wir mit Unrecht zur      
  33 Bedingung der Möglichkeit einer Erkenntniß der Gegenstände, nämlich      
  34 zu einem Begriffe vom denkenden Wesen überhaupt, machen, weil wir      
  35 dieses uns nicht vorstellen können, ohne uns selbst mit der Formel unseres      
  36 Bewußtseins an die Stelle jedes andern intelligenten Wesens zu      
  37 setzen.      
           
     

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