Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 202

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 sie aus Erfahrung geschöpft worden, alle gute Absicht vereitelt hätten. Je      
  02 übereinstimmender die Gesetzgebung und Regierung mit dieser Idee eingerichtet      
  03 wären, desto seltener würden allerdings die Strafen werden, und      
  04 da ist es denn ganz vernünftig (wie Plato behauptet), daß bei einer vollkommenen      
  05 Anordnung derselben gar keine dergleichen nöthig sein würden.      
  06 Ob nun gleich das letztere niemals zu Stande kommen mag, so ist die      
  07 Idee doch ganz richtig, welche dieses Maximum zum Urbilde aufstellt, um      
  08 nach demselben die gesetzliche Verfassung der Menschen der möglich größten      
  09 Vollkommenheit immer näher zu bringen. Denn welches der höchste Grad      
  10 sein mag, bei welchem die Menschheit stehen bleiben müsse, und wie groß      
  11 also die Kluft, die zwischen der Idee und ihrer Ausführung nothwendig      
  12 übrig bleibt, sein möge, das kann und soll niemand bestimmen, eben darum      
  13 weil es Freiheit ist, welche jede angegebene Gränze übersteigen kann.      
           
  14 Aber nicht blos in demjenigen, wobei die menschliche Vernunft wahrhafte      
  15 Causalität zeigt und wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen      
  16 und ihrer Gegenstände) werden, nämlich im Sittlichen, sondern auch in      
  17 Ansehung der Natur selbst sieht Plato mit Recht deutliche Beweise ihres      
  18 Ursprungs aus Ideen. Ein Gewächs, ein Thier, die regelmäßige Anordnung      
  19 des Weltbaues (vermutlich also auch die ganze Naturordnung)      
  20 zeigen deutlich, daß sie nur nach Ideen möglich seien: daß zwar kein einzelnes      
  21 Geschöpf unter den einzelnen Bedingungen seines Daseins mit der      
  22 Idee des Vollkommensten seiner Art congruire (so wenig wie der Mensch      
  23 mit der Idee der Menschheit, die er sogar selbst als das Urbild seiner Handlungen      
  24 in seiner Seele trägt), daß gleichwohl jene Ideen im höchsten Verstande      
  25 einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt und die ursprüngliche      
  26 Ursachen der Dinge sind, und nur das Ganze ihrer Verbindung im      
  27 Weltall einzig und allein jener Idee völlig adäquat sei. Wenn man das      
  28 Übertriebene des Ausdrucks absondert, so ist der Geistesschwung des Philosophen,      
  29 von der copeilichen Betrachtung des Physischen der Weltordnung      
  30 zu der architektonischen Verknüpfung derselben nach Zwecken, d. i. nach      
  31 Ideen, hinaufzusteigen, eine Bemühung, die Achtung und Nachfolge verdient,      
  32 in Ansehung desjenigen aber, was die Principien der Sittlichkeit,      
  33 der Gesetzgebung und der Religion betrifft, wo die Ideen die Erfahrung      
  34 selbst (des Guten) allererst möglich machen, obzwar niemals darin völlig      
  35 ausgedrückt werden können, ein ganz eigenthümliches Verdienst, welches      
  36 man nur darum nicht erkennt, weil man es durch eben die empirische      
  37 Regeln beurtheilt, deren Gültigkeit als Principien eben durch sie hat aufgehoben      
           
     

[ Seite 201 ] [ Seite 203 ] [ Inhaltsverzeichnis ]