Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 179

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Materie ist auch eine bloße Grille; denn diese ist überall kein Gegenstand      
  02 für den reinen Verstand, das transscendentale Object aber, welches der      
  03 Grund dieser Erscheinung sein mag, die wir Materie nennen, ist ein      
  04 bloßes Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn      
  05 es uns auch jemand sagen könnte. Denn wir können nichts verstehen, als      
  06 was ein unsern Worten Correspondirendes in der Anschauung mit sich      
  07 führt. Wenn die Klagen: Wir sehen das Innere der Dinge gar      
  08 nicht ein, so viel bedeuten sollen, als: wir begreifen nicht durch den reinen      
  09 Verstand, was die Dinge, die uns erscheinen, an sich sein mögen, so sind      
  10 sie ganz unbillig und unvernünftig; denn sie wollen, daß man ohne Sinnen      
  11 doch Dinge erkennen, mithin anschauen könne, folglich daß wir ein von      
  12 dem menschlichen nicht blos dem Grade, sondern sogar der Anschauung      
  13 und Art nach gänzlich unterschiedenes Erkenntnißvermögen haben, also      
  14 nicht Menschen, sondern Wesen sein sollen, von denen wir selbst nicht angeben      
  15 können, ob sie einmal möglich, viel weniger wie sie beschaffen seien.      
  16 Ins Innre der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen,      
  17 und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen      
  18 werde. Jene transscendentale Fragen aber, die über die Natur hinausgehen,      
  19 würden wir bei allem dem doch niemals beantworten können, wenn      
  20 uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben      
  21 ist, unser eigenes Gemüth mit einer andern Anschauung, als die unseres inneren      
  22 Sinnes zu beobachten. Denn in demselben liegt das Geheimniß des      
  23 Ursprungs unserer Sinnlichkeit. Ihre Beziehung auf ein Object, und was      
  24 der transscendentale Grund dieser Einheit sei, liegt ohne Zweifel zu tief      
  25 verborgen, als daß wir, die wir sogar uns selbst nur durch innern Sinn      
  26 mithin als Erscheinung kennen, ein so unschickliches Werkzeug unserer Nachforschung      
  27 dazu brauchen könnten, etwas anderes als immer wiederum Erscheinungen      
  28 aufzufinden, deren nichtsinnliche Ursache wir doch gern erforschen      
  29 wollten.      
           
  30 Was diese Kritik der Schlüsse aus den bloßen Handlungen der Reflexion      
  31 überaus nützlich macht, ist: daß sie die Nichtigkeit aller Schlüsse      
  32 über Gegenstände, die man lediglich im Verstande mit einander vergleicht,      
  33 deutlich darthut und dasjenige zugleich bestätigt, was wir hauptsächlich      
  34 eingeschärft haben: daß, obgleich Erscheinungen nicht als Dinge an sich      
  35 selbst unter den Objecten des reinen Verstandes mit begriffen sind, sie doch      
  36 die einzige sind, an denen unsere Erkenntniß objective Realität haben kann,      
  37 nämlich wo den Begriffen Anschauung entspricht.      
           
     

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