Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 055 |
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| 01 | seinen Ursprung in dem Verstande hat. Der Gebrauch dieser reinen Erkenntniß | ||||||
| 02 | aber beruht darauf als ihrer Bedingung: daß uns Gegenstände | ||||||
| 03 | in der Anschauung gegeben sind, worauf jene angewandt werden könne. | ||||||
| 04 | Denn ohne Anschauung fehlt es aller unserer Erkenntniß an Objecten, | ||||||
| 05 | und sie bleibt alsdann völlig leer. Der Theil der transscendentalen Logik | ||||||
| 06 | also, der die Elemente der reinen Verstandeserkenntniß vorträgt, und die | ||||||
| 07 | Principien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann, ist | ||||||
| 08 | die transscendentale Analytik und zugleich eine Logik der Wahrheit, Denn | ||||||
| 09 | ihr kann keine Erkenntniß widersprechen, ohne daß sie zugleich allen Inhalt | ||||||
| 10 | verlöre, d. i. alle Beziehung auf irgend ein Object, mithin alle Wahrheit. | ||||||
| 11 | Weil es aber sehr anlockend und verleitend ist, sich dieser reinen | ||||||
| 12 | Verstandeserkenntnisse und Grundsätze allein und selbst über die Grenzen | ||||||
| 13 | der Erfahrung hinaus zu bedienen, welche doch einzig und allein uns die | ||||||
| 14 | Materie (Objecte) an die Hand geben kann, worauf jene reine Verstandesbegriffe | ||||||
| 15 | angewandt werden können: so geräth der Verstand in Gefahr, | ||||||
| 16 | durch leere Vernünfteleien von den bloßen formalen Principien des reinen | ||||||
| 17 | Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen und über Gegenstände | ||||||
| 18 | ohne Unterschied zu urtheilen, die uns doch nicht gegeben sind, ja vielleicht | ||||||
| 19 | auf keinerlei Weise gegeben werden können. Da sie also eigentlich nur ein | ||||||
| 20 | Kanon der Beurtheilung des empirischen Gebrauchs sein sollte, so wird | ||||||
| 21 | sie gemißbraucht, wenn man sie als das Organon eines allgemeinen und | ||||||
| 22 | unbeschränkten Gebrauchs gelten läßt und sich mit dem reinen Verstande | ||||||
| 23 | allein wagt, synthetisch über Gegenstände überhaupt zu urtheilen, zu behaupten | ||||||
| 24 | und zu entscheiden. Also würde der Gebrauch des reinen Verstandes | ||||||
| 25 | alsdann dialektisch sein. Der zweite Theil der transscendentalen | ||||||
| 26 | Logik muß also eine Kritik dieses dialektischen Scheines sein und heißt | ||||||
| 27 | transscendentale Dialektik, nicht als eine Kunst, dergleichen Schein dogmatisch | ||||||
| 28 | zu erregen (eine leider sehr gangbare Kunst mannigfaltiger metaphysischer | ||||||
| 29 | Gaukelwerke), sondern als eine Kritik des Verstandes und der | ||||||
| 30 | Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen | ||||||
| 31 | Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken und ihre Ansprüche auf | ||||||
| 32 | Erfindung und Erweiterung, die sie blos durch transscendentale Grundsätze | ||||||
| 33 | zu erreichen vermeint, zur bloßen Beurtheilung und Verwahrung des | ||||||
| 34 | reinen Verstandes vor sophistischem Blendwerke herabzusetzen. | ||||||
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