Kant: AA IV, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 007 |
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| 01 | Vorrede. |
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| 02 | Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung | ||||||
| 03 | ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht | ||||||
| 04 | abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, | ||||||
| 05 | die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen | ||||||
| 06 | alles Vermögen der menschlichen Vernunft. | ||||||
| 07 | In diese Verlegenheit geräth sie ohne ihre Schuld. Sie fängt von | ||||||
| 08 | Grundsätzen an, deren Gebrauch im Laufe der Erfahrung unvermeidlich | ||||||
| 09 | und zugleich durch diese hinreichend bewährt ist. Mit diesen steigt sie (wie | ||||||
| 10 | es auch ihre Natur mit sich bringt) immer höher, zu entfernteren Bedingungen. | ||||||
| 11 | Da sie aber gewahr wird, daß auf diese Art ihr Geschäfte jederzeit | ||||||
| 12 | unvollendet bleiben müsse, weil die Fragen niemals aufhören, so sieht | ||||||
| 13 | sie sich genöthigt, zu Grundsätzen ihre Zuflucht zu nehmen, die allen möglichen | ||||||
| 14 | Erfahrungsgebrauch überschreiten und gleichwohl so unverdächtig | ||||||
| 15 | scheinen, daß auch die gemeine Menschenvernunft damit im Einverständnisse | ||||||
| 16 | steht. Dadurch aber stürzt sie sich in Dunkelheit und Widersprüche, | ||||||
| 17 | aus welchen sie zwar abnehmen kann, daß irgendwo verborgene Irrthümer | ||||||
| 18 | zum Grunde liegen müssen, die sie aber nicht entdecken kann, weil die | ||||||
| 19 | Grundsätze, deren sie sich bedient, da sie über die Gränze aller Erfahrung | ||||||
| 20 | hinausgehen, keinen Probirstein der Erfahrung mehr anerkennen. Der | ||||||
| 21 | Kampfplatz dieser endlosen Streitigkeiten heißt nun Metaphysik. | ||||||
| 22 | Es war eine Zeit, in welcher sie die Königin aller Wissenschaften | ||||||
| 23 | genannt wurde, und wenn man den Willen für die That nimmt, so verdiente | ||||||
| 24 | sie wegen der vorzüglichen Wichtigkeit ihres Gegenstandes allerdings | ||||||
| 25 | diesen Ehrennamen. Jetzt bringt es der Modeton des Zeitalters | ||||||
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