Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 514 |
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| 01 | kann zwar Gewißheit, aber nicht Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung | ||||||
| 02 | des Zusammenhanges mit den Gründen ihrer Möglichkeit hervorbringen. | ||||||
| 03 | Daher sind die letzteren mehr eine Nothhülfe, als ein Verfahren, | ||||||
| 04 | welches allen Absichten der Vernunft ein Genüge thut. Doch haben diese | ||||||
| 05 | einen Vorzug der Evidenz vor den directen Beweisen darin: daß der Widerspruch | ||||||
| 06 | allemal mehr Klarheit in der Vorstellung bei sich führt, als die | ||||||
| 07 | beste Verknüpfung und sich dadurch dem Anschaulichen einer Demonstration | ||||||
| 08 | mehr nähert. | ||||||
| 09 | Die eigentliche Ursache des Gebrauchs apagogischer Beweise in verschiedenen | ||||||
| 10 | Wissenschaften ist wohl diese. Wenn die Gründe, von denen | ||||||
| 11 | eine gewisse Erkenntniß abgeleitet werden soll, zu mannigfaltig oder zu | ||||||
| 12 | tief verborgen liegen: so versucht man, ob sie nicht durch die Folgen zu | ||||||
| 13 | erreichen sei. Nun wäre der modus ponens , auf die Wahrheit einer Erkenntniß | ||||||
| 14 | aus der Wahrheit ihrer Folgen zu schließen, nur alsdann erlaubt, | ||||||
| 15 | wenn alle möglichen Folgen daraus wahr sind; denn alsdann ist zu diesen | ||||||
| 16 | nur ein einziger Grund möglich, der also auch der wahre ist. Dieses | ||||||
| 17 | Verfahren aber ist unthunlich, weil es über unsere Kräfte geht, alle mögliche | ||||||
| 18 | Folgen von irgend einem angenommenen Satze einzusehen; doch bedient | ||||||
| 19 | man sich dieser Art zu schließen, obzwar freilich mit einer gewissen | ||||||
| 20 | Nachsicht, wenn es darum zu thun ist, um etwas bloß als Hypothese zu | ||||||
| 21 | beweisen, indem man den Schluß nach der Analogie einräumt: daß, wenn | ||||||
| 22 | so viele Folgen, als man nur immer versucht hat, mit einem angenommenen | ||||||
| 23 | Grunde wohl zusammenstimmen, alle übrige mögliche auch darauf | ||||||
| 24 | einstimmen werden. Um deswillen kann durch diesen Weg niemals eine | ||||||
| 25 | Hypothese in demonstrirte Wahrheit verwandelt werden. Der modus tollens | ||||||
| 26 | der Vernunftschlüsse, die von den Folgen auf die Gründe schließen, | ||||||
| 27 | beweiset nicht allein ganz strenge, sondern auch überaus leicht. Denn | ||||||
| 28 | wenn auch nur eine einzige falsche Folge aus einem Satze gezogen werden | ||||||
| 29 | kann, so ist dieser Satz falsch. Anstatt nun die ganze Reihe der Gründe | ||||||
| 30 | in einem ostensiven Beweise durchzulaufen, die auf die Wahrheit einer Erkenntniß | ||||||
| 31 | vermittelst der vollständigen Einsicht in ihre Möglichkeit führen | ||||||
| 32 | kann, darf man nur unter den aus dem Gegentheil derselben fließenden | ||||||
| 33 | Folgen eine einzige falsch finden, so ist dieses Gegentheil auch falsch, mithin | ||||||
| 34 | die Erkenntniß, welche man zu beweisen hatte, wahr. | ||||||
| 35 | Die apagogische Beweisart kann aber nur in den Wissenschaften erlaubt | ||||||
| 36 | sein, wo es unmöglich ist, das Subjective unserer Vorstellungen dem | ||||||
| 37 | Objectiven, nämlich der Erkenntniß desjenigen, was am Gegenstande ist, | ||||||
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