Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 505 |
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| 01 | einer bloßen Erdichtung, weil jede derselben an sich dieselbe Rechtfertigung | ||||||
| 02 | bedarf, welche der zum Grunde gelegte Gedanke nöthig hatte, | ||||||
| 03 | und daher keinen tüchtigen Zeugen abgeben kann. Wenn unter Voraussetzung | ||||||
| 04 | einer unbeschränkt vollkommenen Ursache zwar an Erklärungsgründen | ||||||
| 05 | aller Zweckmäßigkeit, Ordnung und Größe, die sich in der Welt | ||||||
| 06 | finden, kein Mangel ist, so bedarf jene doch bei den wenigstens nach unseren | ||||||
| 07 | Begriffen sich zeigenden Abweichungen und Übeln noch neuer Hypothesen, | ||||||
| 08 | um gegen diese als Einwürfe gerettet zu werden. Wenn die einfache | ||||||
| 09 | Selbstständigkeit der menschlichen Seele, die zum Grunde ihrer Erscheinungen | ||||||
| 10 | gelegt worden, durch die Schwierigkeiten ihrer den Abänderungen | ||||||
| 11 | einer Materie (dem Wachsthum und Abnahme) ähnlichen Phänomene angefochten | ||||||
| 12 | wird, so müssen neue Hypothesen zu Hülfe gerufen werden, die | ||||||
| 13 | zwar nicht ohne Schein, aber doch ohne alle Beglaubigung sind, außer derjenigen, | ||||||
| 14 | welche ihnen die zum Hauptgrunde angenommene Meinung giebt, | ||||||
| 15 | der sie gleichwohl das Wort reden sollen. | ||||||
| 16 | Wenn die hier zum Beispiele angeführten Vernunftbehauptungen | ||||||
| 17 | (unkörperliche Einheit der Seele und Dasein eines höchsten Wesens) nicht | ||||||
| 18 | als Hypothesen, sondern a priori bewiesene Dogmate gelten sollen, so ist | ||||||
| 19 | alsdann von ihnen gar nicht die Rede. In solchem Falle aber sehe man | ||||||
| 20 | sich ja vor, daß der Beweis die apodiktische Gewißheit einer Demonstration | ||||||
| 21 | habe. Denn die Wirklichkeit solcher Ideen bloß wahrscheinlich | ||||||
| 22 | machen zu wollen, ist ein ungereimter Vorsatz, eben so als wenn man einen | ||||||
| 23 | Satz der Geometrie bloß wahrscheinlich zu beweisen gedächte. Die von | ||||||
| 24 | aller Erfahrung abgesonderte Vernunft kann alles nur a priori und als | ||||||
| 25 | nothwendig, oder gar nicht erkennen; daher ist ihr Urtheil niemals Meinung, | ||||||
| 26 | sondern entweder Enthaltung von allem Urtheile, oder apodiktische | ||||||
| 27 | Gewißheit. Meinungen und wahrscheinliche Urtheile von dem, was Dingen | ||||||
| 28 | zukommt, können nur als Erklärungsgründe dessen, was wirklich gegeben | ||||||
| 29 | ist, oder Folgen nach empirischen Gesetzen von dem, was als wirklich | ||||||
| 30 | zum Grunde liegt, mithin nur in der Reihe der Gegenstände der Erfahrung | ||||||
| 31 | vorkommen. Außer diesem Felde ist Meinen so viel, als mit Gedanken | ||||||
| 32 | Spielen, es müßte denn sein, daß man von einem unsicheren Wege | ||||||
| 33 | des Urtheils bloß die Meinung hätte, vielleicht auf ihm die Wahrheit zu | ||||||
| 34 | finden. | ||||||
| 35 | Ob aber gleich bei bloß speculativen Fragen der reinen Vernunft | ||||||
| 36 | keine Hypothesen stattfinden, um Sätze darauf zu gründen, so sind sie | ||||||
| 37 | dennoch ganz zulässig, um sie allenfalls nur zu vertheidigen, d. i. zwar | ||||||
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