Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 486

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 das Interesse der Vernunft für sich haben, darauf sich der Gegner gar      
  02 nicht berufen kann.      
           
  03 Ich bin zwar nicht der Meinung, welche vortreffliche und nachdenkende      
  04 Männer (z. B. Sulzer) so oft geäußert haben, da sie die Schwäche      
  05 der bisherigen Beweise fühlten: daß man hoffen könne, man werde dereinst      
  06 noch evidente Demonstrationen der zwei Cardinalsätze unserer reinen      
  07 Vernunft: es ist ein Gott, es ist ein künftiges Leben, erfinden. Vielmehr      
  08 bin ich gewiß, daß dieses niemals geschehen werde. Denn wo will die      
  09 Vernunft den Grund zu solchen synthetischen Behauptungen, die sich nicht      
  10 auf Gegenstände der Erfahrung und deren innere Möglichkeit beziehen,      
  11 hernehmen? Aber es ist auch apodiktisch gewiß, daß niemals irgend ein      
  12 Mensch auftreten werde, der das Gegentheil mit dem mindesten Scheine,      
  13 geschweige dogmatisch behaupten könne. Denn weil er dieses doch bloß      
  14 durch reine Vernunft darthun könnte, so müßte er es unternehmen, zu beweisen:      
  15 daß ein höchstes Wesen, daß das in uns denkende Subject als      
  16 reine Intelligenz unmöglich sei. Wo will er aber die Kenntnisse hernehmen,      
  17 die ihn, von Dingen über alle mögliche Erfahrung hinaus so      
  18 synthetisch zu urtheilen, berechtigen? Wir können also darüber ganz unbekümmert      
  19 sein, daß uns jemand das Gegentheil einstens beweisen werde,      
  20 daß wir darum eben nicht nöthig haben, auf schulgerechte Beweise zu      
  21 Sinnen, sondern immerhin diejenigen Sätze annehmen können, welche mit      
  22 dem speculativen Interesse unserer Vernunft im empirischen Gebrauch      
  23 ganz wohl zusammenhängen und überdem es mit dem praktischen Interesse      
  24 zu vereinigen die einzigen Mittel sind. Für den Gegner (der hier      
  25 nicht bloß als Kritiker betrachtet werden muß) haben wir unser non liquet      
  26 in Bereitschaft, welches ihn unfehlbar verwirren muß, indessen daß wir      
  27 die Retorsion desselben auf uns nicht weigern, indem wir die subjective      
  28 Maxime der Vernunft beständig im Rückhalte haben, die dem Gegner      
  29 nothwendig fehlt, und unter deren Schutz wir alle seine Luftstreiche mit      
  30 Ruhe und gleichgültigkeit Ansehen können.      
           
  31 Auf solche Weise giebt es eigentlich gar keine Antithetik der reinen      
  32 Vernunft. Denn der einzige Kampfplatz für sie würde auf dem Felde der      
  33 reinen Theologie und Psychologie zu suchen sein; dieser Boden aber trägt      
  34 keinen Kämpfer in seiner ganzen rüstung und mit Waffen, die zu fürchten      
  35 wären. Er kann nur mit Spott oder Großsprecherei auftreten, welches      
  36 als ein Kinderspiel belacht werden kann. Das ist eine tröstende Bemerkung,      
  37 die der Vernunft wieder Muth giebt; denn worauf wollte sie      
           
     

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