Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 471

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die in diesen Begriffen gar nicht liegen. Allein der Geometer nehme diese      
  02 Frage vor. Er fängt sofort davon an, einen Triangel zu construiren.      
  03 Weil er weiß, daß zwei rechte Winkel zusammen gerade so viel austragen,      
  04 als alle berührende Winkel, die aus einem Punkte auf einer geraden      
  05 Linie gezogen werden können, zusammen, so verlängert er eine Seite seines      
  06 Triangels und bekommt zwei berührende Winkel, die zwei rechten zusammen      
  07 gleich sind. Nun teilt er den äußeren von diesen Winkeln, indem      
  08 er eine Linie mit der gegenüberstehenden Seite des Triangels parallel      
  09 zieht, und sieht, daß hier ein äußerer berührender Winkel entspringe, der      
  10 einem inneren gleich ist, u. s. w. Er gelangt auf solche Weise durch eine      
  11 Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden      
  12 und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage.      
           
  13 Die Mathematik aber construirt nicht bloß Größen ( quanta ), wie in      
  14 der Geometrie, sondern auch die bloße Größe ( quantitatem ), wie in der      
  15 Buchstabenrechnung, wobei sie von der Beschaffenheit des Gegenstandes,      
  16 der nach einem solchen Größenbegriff gedacht werden soll, gänzlich abstrahirt.      
  17 Sie wählt sich alsdann eine gewisse Bezeichnung aller Constructionen      
  18 von Größen überhaupt (Zahlen) als der Addition, Subtraction      
  19 u. s. w., Ausziehung der Wurzel; und nachdem sie den allgemeinen Begriff      
  20 der Größen nach den verschiedenen Verhältnissen derselben auch bezeichnet      
  21 hat, so stellt sie alle Behandlung, die durch die Größe erzeugt und      
  22 verändert wird, nach gewissen allgemeinen Regeln in der Anschauung      
  23 dar; wo eine Größe durch die andere dividirt werden soll, setzt sie beider      
  24 ihre Charaktere nach der bezeichnenden Form der Division zusammen      
  25 u. s. w. und gelangt also vermittelst einer symbolischen Construction eben      
  26 so gut, wie die Geometrie nach einer ostensiven oder geometrischen (der      
  27 Gegenstände selbst) dahin, wohin die discursive Erkenntniß vermittelst      
  28 bloßer Begriffe niemals gelangen könnte.      
           
  29 Was mag die Ursache dieser so verschiedenen Lage sein, darin sich      
  30 zwei Vernunftkünstler befinden, deren der eine seinen Weg nach Begriffen,      
  31 der andere nach Anschauungen nimmt, die er a priori den Begriffen gemäß      
  32 darstellt? Nach den oben vorgetragenen transscendentalen Grundlehren      
  33 ist diese Ursache klar. Es kommt hier nicht auf analytische Sätze      
  34 an, die durch bloße Zergliederung der Begriffe erzeugt werden können      
  35 (hierin würde der Philosoph ohne Zweifel den Vortheil über seinen Nebenbuhler      
  36 haben), sondern auf synthetische und zwar solche, die a priori      
  37 sollen erkannt werden. Denn ich soll nicht auf dasjenige sehen, was ich      
           
     

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