Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 290 |
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| 01 | nennen. Diese Unterscheidung ist für jetzt noch nicht von sonderlicher Erheblichkeit, | ||||||
| 02 | sie kann aber im Fortgange wichtiger werden. | ||||||
| 03 | Der |
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| 04 | Antinomie der reinen Vernunft |
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| 05 | Zweiter Abschnitt. |
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| 06 | Antithetik der reinen Vernunft. |
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| 07 | Wenn Thetik ein jeder Inbegriff dogmatischer Lehren ist, so verstehe | ||||||
| 08 | ich unter Antithetik nicht dogmatische Behauptungen des Gegentheils, | ||||||
| 09 | sondern den Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntnisse | ||||||
| 10 | ( thesin cum antithesi ), ohne daß man einer vor der andern einen vorzüglichen | ||||||
| 11 | Anspruch auf Beifall beilegt. Die Antithetik beschäftigt sich also | ||||||
| 12 | gar nicht mit einseitigen Behauptungen, sondern betrachtet allgemeine Erkenntnisse | ||||||
| 13 | der Vernunft nur nach dem Widerstreite derselben unter einander | ||||||
| 14 | und den Ursachen desselben. Die transscendentale Antithetik ist eine | ||||||
| 15 | Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft, die Ursachen und | ||||||
| 16 | das Resultat derselben. Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß zum Gebrauch | ||||||
| 17 | der Verstandesgrundsätze auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, | ||||||
| 18 | sondern jene über die Grenze der letzteren hinaus auszudehnen wagen, | ||||||
| 19 | so entspringen vernünftelnde Lehrsätze, die in der Erfahrung weder | ||||||
| 20 | Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen, und deren jeder | ||||||
| 21 | nicht allein an sich selbst ohne Widerspruch ist, sondern sogar in der Natur | ||||||
| 22 | der Vernunft Bedingungen seiner Nothwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicher | ||||||
| 23 | Weise der Gegensatz eben so gültige und nothwendige Gründe | ||||||
| 24 | der Behauptung auf seiner Seite hat. | ||||||
| 25 | Die Fragen, welche bei einer solchen Dialektik der reinen Vernunft | ||||||
| 26 | sich natürlich darbieten, sind also: 1. Bei welchen Sätzen denn eigentlich | ||||||
| 27 | die reine Vernunft einer Antinomie unausbleiblich unterworfen sei. 2. Auf | ||||||
| 28 | welchen Ursachen diese Antinomie beruhe. 3. Ob und auf welche Art | ||||||
| 29 | dennoch der Vernunft unter diesem Widerspruch ein Weg zur Gewißheit | ||||||
| 30 | offen bleibe. | ||||||
| 31 | Ein dialektischer Lehrsatz der reinen Vernunft muß demnach dieses | ||||||
| 32 | ihn von allen sophistischen Sätzen Unterscheidende an sich haben, daß er | ||||||
| 33 | nicht eine willkürliche Frage betrifft, die man nur in gewisser beliebiger | ||||||
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