Kant: AA III, Kritik der reinen Vernunft ... , Seite 050

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern      
  02 wir von demselben afficirt werden, ist Empfindung. Diejenige Anschauung,      
  03 welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt      
  04 empirisch. Der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung      
  05 heißt Erscheinung.      
           
  06 In der Erscheinung nenne ich das, was der Empfindung correspondirt,      
  07 die Materie derselben, dasjenige aber, welches macht, daß das      
  08 Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden      
  09 kann, nenne ich die Form der Erscheinung. Da das, worin sich die      
  10 Empfindungen allein ordnen und in gewisse Form gestellt werden können,      
  11 nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie      
  12 aller Erscheinung nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber mu      
  13 zu ihnen insgesammt im Gemüthe a priori bereit liegen und daher abgesondert      
  14 von aller Empfindung können betrachtet werden.      
           
  15 Ich nenne alle Vorstellungen rein (im transscendentalen Verstande),      
  16 in denen nichts, was zur Empfindung gehört, angetroffen wird. Demnach      
  17 wird die reine Form sinnlicher Anschauungen überhaupt im Gemüthe      
  18 a priori angetroffen werden, worin alles Mannigfaltige der Erscheinungen      
  19 in gewissen Verhältnissen angeschauet wird. Diese reine Form der      
  20 Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen. So, wenn ich      
  21 von der Vorstellung eines Körpers das, was der Verstand davon denkt,      
  22 als Substanz, Kraft, Theilbarkeit etc., imgleichen was davon zur Empfindung      
  23 gehört, als Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe etc., absondere, so bleibt      
  24 mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung      
  25 und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch      
  26 ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine      
  27 bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüthe stattfindet.      
           
  28 Eine Wissenschaft von allen Principien der Sinnlichkeit a priori      
  29 nenne ich die transscendentale Ästhetik.*) Es muß also eine solche      
           
    *) Die Deutschen sind die einzigen, welche sich jetzt des Worts Ästhetik bedienen, um dadurch das zu bezeichnen, was andre Kritik des Geschmacks heißen. Es liegt hier eine verfehlte Hoffnung zum Grunde, die der vortreffliche Analyst Baumgarten faßte, die kritische Beurtheilung des Schönen unter Vernunftprincipien zu bringen und die Regeln derselben zur Wissenschaft zu erheben. Allein diese Bemühung ist vergeblich. Denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren vornehmsten Quellen [Seitenumbruch] nach bloß empirisch und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wornach sich unser Geschmacksurtheil richten müßte; vielmehr macht das letztere den eigentlichen Probirstein der Richtigkeit der ersteren aus. Um deswillen ist es rathsam, diese Benennung entweder wiederum eingehen zu lassen und sie derjenigen Lehre aufzubehalten, die wahre Wissenschaft ist (wodurch man auch der Sprache und dem Sinne der Alten näher treten würde, bei denen die Eintheilung der Erkenntniß in αιστητα και νοητα sehr berühmt war), oder sich in die Benennung mit der speculativen Philosophie zu theilen und die Ästhetik theils im transscendentalen Sinne, theils in psychologischer Bedeutung zu nehmen.      
           
     

[ Seite 049 ] [ Seite 051 ] [ Inhaltsverzeichnis ]