Kant: AA II, Versuch über die Krankheiten ... , Seite 262

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 von minderer Heftigkeit und Allgemeinheit, welche gleichwohl nicht ermangeln      
  02 ihre Thorheit zu erzeugen: der Baugeist, die Bilderneigung, die      
  03 Büchersucht. Der ausgeartete Mensch ist aus seiner natürlichen Stelle      
  04 gewichen und wird von allem gezogen und von allem gehalten. Dem      
  05 Thoren ist der gescheute Mann entgegengesetzt; wer aber ohne Thorheit      
  06 ist, ist ein Weiser. Dieser Weise kann etwa im Monde gesucht werden;      
  07 vielleicht daß man daselbst ohne Leidenschaft ist und unendlich viel Vernunft      
  08 hat. Der Unempfindliche ist durch seine Dummheit wider Thorheit gesichert;      
  09 vor gemeinen Augen aber hat er die Miene eines Weisen. Pyrrho      
  10 sah auf einem Schiffe im Sturm, da jedermann ängstlich beschäftigt war,      
  11 ein Schwein ruhig aus seinem Troge fressen und sagte, indem er auf dasselbe      
  12 wies: "So soll die Ruhe eines Weisen sein." Der Unempfindliche      
  13 ist der Weise des Pyrrho.      
           
  14 Wenn die herrschende Leidenschaft an sich selbst hassenswürdig und      
  15 zugleich abgeschmackt genug ist, um dasjenige, was der natürlichen Absicht      
  16 derselben gerade entgegen gesetzt ist, für die Befriedigung derselben zu      
  17 halten, so ist dieser Zustand der verkehrten Vernunft Narrheit. Der      
  18 Thor versteht die wahre Absicht seiner Leidenschaft sehr wohl, wenn er      
  19 gleich ihr eine Stärke einräumt, welche die Vernunft zu fesseln vermag.      
  20 Der Narr aber ist dadurch zugleich so dumm gemacht, daß er alsdann      
  21 nur glaubt im Besitze zu sein, wenn er sich des Begehrten wirklich beraubt.      
  22 Pyrrhus wußte sehr wohl, daß Tapferkeit und Macht allgemeine Bewunderung      
  23 erwerben; er befolgte den Trieb der Ehrsucht ganz richtig und      
  24 war nichts weiter, als wofür ihn Cineas hielt, nämlich ein Thor. Wenn      
  25 aber Nero sich dem öffentlichen Gespötte aussetzt, indem er von einer      
  26 Bühne elende Verse abliest, um den Dichterpreis zu erlangen, und noch      
  27 am Ende seines Lebens sagt: quantus artifex morior! , so sehe ich an      
  28 diesem gefürchteten und ausgelachten Beherrscher von Rom nichts Besseres,      
  29 als einen Narren. Ich halte dafür, daß alle Narrheit eigentlich auf zwei      
  30 Leidenschaften gepfropft sei, den Hochmuth und den Geiz. Beide Neigungen      
  31 sind ungerecht und werden daher gehaßt, beide sind ihrer Natur nach      
  32 abgeschmackt, und ihr Zweck zerstört sich selbst. Der Hochmüthige äußert      
  33 eine unverdeckte Anmaßung des Vorzuges vor anderen durch eine deutliche      
  34 Geringschätzung derselben. Er glaubt geehrt zu sein, indem er ausgepfiffen      
  35 wird, denn es ist nichts klärer, als daß die Verachtung anderer      
  36 dieser ihre eigene Eitelkeit gegen den Anmaßer empöre. Der Geizige hat      
  37 seiner Meinung nach sehr viel nöthig und kann unmöglich das mindeste      
           
     

[ Seite 261 ] [ Seite 263 ] [ Inhaltsverzeichnis ]