Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 240

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die Erweiterung der Einsicht unvermerkt die erledigte Stelle der Grazien      
  02 durch die Musen ersetzen, und der Ehemann sollte der erste Lehrmeister      
  03 sein. Gleichwohl wenn selbst die allem Frauenzimmer so schreckliche Epoche      
  04 des Altwerdens herankommt, so gehört es doch auch alsdann noch immer      
  05 zum schönen Geschlecht, und es verunziert sich selbst, wenn es in einer Art      
  06 von Verzweiflung diesen Charakter länger zu erhalten sich einer mürrischen      
  07 und grämischen Laune überläßt.      
           
  08 Eine bejahrte Person, welche mit einem sittsamen und freundlichen      
  09 Wesen der Gesellschaft beiwohnt, auf eine muntere und vernünftige Art      
  10 gesprächig ist, die Vergnügen der Jugend, darin sie selbst nicht Antheil      
  11 nimmt, mit Anstand begünstigt und, indem sie für alles sorgt, Zufriedenheit      
  12 und Wohlgefallen an der Freude, die um sie vorgeht, verräth, ist noch      
  13 immer eine feinere Person, als ein Mann in gleichem Alter und vielleicht      
  14 noch liebenswürdiger als ein Mädchen, wiewohl in einem anderen Verstande.      
  15 Zwar möchte die platonische Liebe wohl etwas zu mystisch sein,      
  16 welche ein alter Philosoph vorgab, wenn er von dem Gegenstande seiner      
  17 Neigung sagte: Die Grazien residiren in ihren Runzeln, und      
  18 meine Seele scheint auf meinen Lippen zu schweben, wenn ich      
  19 ihren welken Mund küsse; allein dergleichen Ansprüche müssen alsdann      
  20 auch aufgegeben werden. Ein alter Mann, der verliebt thut, ist ein      
  21 Geck, und die ähnliche Anmaßungen des andern Geschlechts sind alsdann      
  22 ekelhaft. An der Natur liegt es niemals, wenn wir nicht mit einem guten      
  23 Anstande erscheinen, sondern daran, daß man sie verkehren will.      
           
  24 Damit ich meinen Text nicht aus den Augen verliere, so will ich noch      
  25 einige Betrachtungen über den Einfluß anstellen, den ein Geschlecht aufs      
  26 andere haben kann, dessen Gefühl zu verschöneren oder zu veredlen. Das      
  27 Frauenzimmer hat ein vorzügliches Gefühl für das Schöne, so fern es      
  28 ihnen selbst zukommt, aber für das Edle, in so weit es am männlichen      
  29 Geschlechte angetroffen wird. Der Mann dagegen hat ein entschiedenes      
  30 Gefühl für das Edle, was zu seinen Eigenschaften gehört,      
  31 für das Schöne aber, in so fern es an dem Frauenzimmer anzutreffen      
  32 ist. Daraus muß folgen, daß die Zwecke der Natur darauf gehen, den      
  33 Mann durch die Geschlechterneigung noch mehr zu veredlen und das      
  34 Frauenzimmer durch eben dieselbe noch mehr zu verschönern. Ein      
  35 Frauenzimmer ist darüber wenig verlegen, daß sie gewisse hohe Einsichten      
  36 nicht besitzt, daß sie furchtsam und zu wichtigen Geschäften nicht auferlegt      
  37 ist etc. etc., sie ist schön und nimmt ein, und das ist genug. Dagegen fordert      
           
     

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