Kant: AA II, Beobachtungen über das ... , Seite 225

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 der eine etwas edel und anständig findet, was dem andern zwar groß,      
  02 aber abenteuerlich vorkommt. Die Gelegenheiten, die sich darbieten, bei      
  03 unmoralischen Dingen etwas von dem Gefühl des andern auszuspähen,      
  04 können uns Anlaß geben mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit auch auf seine      
  05 Empfindung in Ansehung der höheren Gemüthseigenschaften und selbst      
  06 derer des Herzens zu schließen. Wer bei einer schönen Musik lange Weile      
  07 hat, giebt starke Vermuthung, daß die Schönheiten der Schreibart und      
  08 die feine Bezauberungen der Liebe wenig Gewalt über ihn haben werden.      
           
  09 Es ist ein gewisser Geist der Kleinigkeiten ( esprit des bagatelles ),      
  10 welcher eine Art von feinem Gefühl anzeigt, welches aber gerade auf das      
  11 Gegentheil von dem Erhabenen abzielt. Ein Geschmack für etwas, weil      
  12 es sehr künstlich und mühsam ist, Verse, die sich vor= und rückwärts lesen      
  13 lassen, Räthsel, Uhren in Ringen, Flohketten etc. etc. Ein Geschmack für      
  14 alles, was abgezirkelt und auf peinliche Weise ordentlich, obzwar ohne      
  15 Nutzen ist, z. E. Bücher, die fein zierlich in langen Reihen im Bücherschranke      
  16 stehen, und ein leerer Kopf, der sie ansieht und sich erfreuet, Zimmer,      
  17 die wie optische Kasten geziert und überaus sauber gewaschen sind,      
  18 zusammt einem ungastfreien und mürrischen Wirte, der sie bewohnt. Ein      
  19 Geschmack an allem demjenigen, was selten ist, so wenig wie es auch sonst      
  20 innern Werth haben mag. Epiktets Lampe, ein Handschuh von König Karl      
  21 dem Zwölften; in gewisser Art schlägt die Münzensucht mit hierauf ein.      
  22 Solche Personen stehen sehr im Verdacht, daß sie in den Wissenschaften      
  23 Grübler und Grillenfänger, in den Sitten aber für alle das, was auf freie      
  24 Art schön oder edel ist, ohne Gefühl sein werden.      
           
  25 Man thut einander zwar Unrecht, wenn man denjenigen, der den      
  26 Werth, oder die Schönheit dessen, was uns rührt, oder reizt, nicht einsieht,      
  27 damit abfertigt, daß er es nicht verstehe. Es kommt hiebei nicht so sehr      
  28 darauf an, was der Verstand einsehe, sondern was das Gefühl empfinde.      
  29 Gleichwohl haben die Fähigkeiten der Seele einen so großen Zusammenhang:      
  30 daß man mehrentheils von der Erscheinung der Empfindung auf      
  31 die Talente der Einsicht schließen kann. Denn es würden demjenigen, der      
  32 viele Verstandesvorzüge hat, diese Talente vergeblich ertheilt sein, wenn      
  33 er nicht zugleich starke Empfindung für das wahrhaftig Edle oder Schöne      
  34 hätte, welche die Triebfeder sein muß, jene Gemüthsgaben wohl und regelmäßig      
  35 anzuwenden.*)      
           
    *) Man sieht auch, daß eine gewisse Feinigkeit des Gefühls einem Menschen zum Verdienste angerechnet wird. Daß jemand in Fleisch oder Kuchen eine gute [Seitenumbruch] Mahlzeit thun kann, imgleichen daß er unvergleichlich wohl schläft, das wird man ihm wohl als ein Zeichen eines guten Magens, aber nicht als ein Verdienst auslegen. Dagegen wer einen Theil seiner Mahlzeit dem Anhören einer Musik aufopfert oder bei einer Schilderei sich in eine angenehme Zerstreuung vertiefen kann, oder einige witzige Sachen, wenn es auch nur poetische Kleinigkeiten wären, gerne liest, hat doch fast in jedermanns Augen den Anstand eines feineren Menschen, von dem man eine vortheilhaftere und für ihn rühmlichere Meinung hat.      
           
     

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