Kant: AA II, Versuch den Begriff der ... , Seite 198

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 haben überwinden können. Der Inhalt dieser Sätze scheint mir eine gewisse      
  02 Würde an sich zu haben, welche wohl zu einer genauen Prüfung derselben      
  03 aufmuntern kann, wofern man nur ihren Sinn wohl begreift,      
  04 welches in dergleichen Art von Erkenntniß nicht so leicht ist.      
           
  05 Ich will indessen noch einigen Mißdeutungen vorzukommen suchen.      
  06 Man würde mich ganz und gar nicht verstehen, wenn man sich einbildete,      
  07 ich hätte durch den ersten Satz sagen wollen: daß überhaupt die Summe      
  08 der Realität durch die Weltveränderungen gar nicht vermehrt noch vermindert      
  09 werde. Dieses ist so ganz und gar nicht mein Sinn, daß auch      
  10 die zum beispiel angeführte mechanische Regel gerade das Gegentheil      
  11 verstattet. Denn durch den Stoß der Körper wird die Summe der Bewegungen      
  12 bald vermehrt, bald vermindert, wenn man sie für sich betrachtet,      
  13 allein das Facit, nach der zugleich beigefügten Art geschätzt,      
  14 ist dasjenige, was einerlei bleibt. Denn die Entgegensetzungen      
  15 sind in vielen Fällen nur potential, wo die Bewegkräfte einander wirklich      
  16 nicht aufheben und wo also eine Vermehrung statt findet. Allein nach der      
  17 einmal zur Richtschnur angenommenen Schätzung müssen doch auch diese      
  18 von einander abgezogen werden.      
           
  19 Eben so muß man bei der Anwendung dieses Satzes auf unmechanische      
  20 Veränderungen urtheilen. Ein gleicher Mißverstand würde es sein, wenn      
  21 man sich einfallen ließe, daß nach eben demselben Satze die Vollkommenheit      
  22 der Welt gar nicht wachsen könnte. Denn es wird ja durch diesen      
  23 Satz gar nicht geleugnet, daß die Summe der Realität überhaupt nicht      
  24 natürlicher Weise sollte vermehrt werden können. Überdem besteht in      
  25 diesem Conflictus der entgegengesetzten Realgründe gar sehr die Vollkommenheit      
  26 der Welt überhaupt, gleichwie der materiale Theil derselben      
  27 ganz offenbar blos durch den Streit der Kräfte in einem regelmäßigen      
  28 Laufe erhalten wird. Und es ist immer ein großer Mißverstand, wenn      
  29 man die Summe der Realität mit der Größe der Vollkommenheit als      
  30 einerlei ansieht. Wir haben oben gesehen, daß Unlust eben so wohl positiv      
  31 sei wie Lust, wer würde sie aber eine Vollkommenheit nennen?      
           
  32 3. Wir haben schon angemerkt, daß es oftmals schwer sei auszumachen,      
  33 ob gewisse Verneinungen der Natur bloße Mängel um eines      
  34 fehlenden Grundes willen, oder Beraubungen seien aus der Realentgegensetzung      
  35 zweier positiven Gründe. In der materialen Welt sind die Beispiele      
  36 hievon häufig. Die zusammenhängende Theile eines jeden Körpers      
  37 drücken gegen einander mit wahren Kräften (der Anziehung), und die      
           
     

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