Kant: AA I, Allgemeine Naturgeschichte und ... , Seite 230

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 man könne hier in gewissem Verstande ohne Vermessenheit sagen: Gebet      
  02 mir Materie, ich will eine Welt daraus bauen! das ist, gebet      
  03 mir Materie, ich will euch zeigen, wie eine Welt daraus entstehen soll.      
  04 Denn wenn Materie vorhanden ist, welche mit einer wesentlichen Attractionskraft      
  05 begabt ist, so ist es nicht schwer diejenigen Ursachen zu      
  06 bestimmen, die zu der Einrichtung des Weltsystems, im Großen betrachtet,      
  07 haben beitragen können. Man weiß, was dazu gehört, daß ein      
  08 Körper eine kugelrunde Figur erlange, man begreift, was erfordert wird,      
  09 daß frei schwebende Kugeln eine kreisförmige Bewegung um den Mittelpunkt      
  10 anstellen, gegen den sie gezogen werden. Die Stellung der Kreise      
  11 gegeneinander, die Übereinstimmung der Richtung, die Excentricität,      
  12 alles kann auf die einfachsten mechanischen Ursachen gebracht werden,      
  13 und man darf mit Zuversicht hoffen sie zu entdecken, weil sie auf die      
  14 leichtesten und deutlichsten Gründe gesetzt werden können. Kann man      
  15 aber wohl von den geringsten Pflanzen oder Insect sich solcher Vortheile      
  16 rühmen? Ist man im Stande zu sagen: Gebt mir Materie, ich      
  17 will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne?      
  18 Bleibt man hier nicht bei dem ersten Schritte aus Unwissenheit der      
  19 wahren innern Beschaffenheit des Objects und der Verwickelung der in      
  20 demselben vorhandenen Mannigfaltigkeit stecken? Man darf es sich also      
  21 nicht befremden lassen, wenn ich mich unterstehe zu sagen: daß eher die      
  22 Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz, der      
  23 Ursprung der ganzen gegenwärtigen Verfassung des Weltbaues werde      
  24 können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder      
  25 einer Raupe aus mechanischen Gründen deutlich und vollständig kund      
  26 werden wird.      
           
  27 Dieses sind die Ursachen, worauf ich meine Zuversicht gründe,      
  28 daß der physische Theil der Weltwissenschaft künftighin noch wohl eben      
  29 die Vollkommenheit zu hoffen habe, zu der Newton die mathematische      
  30 Hälfte derselben erhoben hat. Es sind nächst den Gesetzen, nach      
  31 welchen der Weltbau in der Verfassung, darin er ist, besteht, vielleicht      
  32 keine anderen in der ganzen Naturforschung solcher mathematischen      
  33 Bestimmungen fähig, als diejenigen, nach welchen er entstanden ist,      
  34 und ohne Zweifel würde die Hand eines versuchten Meßkünstlers hier      
  35 nicht unfruchtbare Felder bearbeiten.      
           
  36 Nachdem ich den Vorwurf meiner Betrachtung einer günstigen      
  37 Aufnahme zu empfehlen mir habe angelegen sein lassen: so wird man      
           
     

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