Kant: AA I, Gedanken von der wahren ... , Seite 013

     
           
 

Zeile:

 

Text (Kant):

 

 

 

 
  01 die Ausdrücke geschickt zu mildern und überall das Merkmal der Ehrerbietigkeit      
  02 sehen zu lassen; diese Bemühung würde mich wegen der      
  03 Wahl der Wörter öfters in eine verdrießliche Enge bringen und mich      
  04 der Nothwendigkeit unterwerfen, über den Fußsteig der philosophischen      
  05 Betrachtung von allen auszuschweifen. Ich will mich also der Gelegenheit      
  06 dieses Vorberichtes bedienen, eine öffentliche Erklärung      
  07 der Ehrerbietigkeit und Hochachtung zu thun, die      
  08 ich gegen die großen Meister unserer Erkenntniß, welche ich      
  09 jetzt die Ehre haben werde meine Gegner zu heißen, jederzeit      
  10 hegen werde, und der die Freiheit meiner schlechten      
  11 Urtheile nicht den geringsten Abbruch thun kann.      
           
  12
X
     
           
  13 Nach den verschiedenen Vorurtheilen, die ich mich jetzt bemüht      
  14 habe wegzuräumen, bleibt dennoch endlich noch ein gewisses rechtmäßiges      
  15 Vorurtheil übrig, dem ich dasjenige, was in meiner Schrift      
  16 etwa noch Überzeugendes anzutreffen wäre, insbesondere zu verdanken      
  17 habe. Wenn viele große Männer von bewährter Scharfsinnigkeit und      
  18 Urtheilskraft theils durch verschiedene, theils durch einerlei Wege zur      
  19 Behauptung eben desselben Satzes geleitet werden, so ist eine      
  20 wahrscheinlichere Vermuthung, daß ihre Beweise richtig sind, als da      
  21 der Verstand irgend eines schlechten Schriftstellers die Schärfe in denselben      
  22 genauer sollte beobachtet haben. Es hat dieser daher große      
  23 Ursache den Vorwurf seiner Betrachtung sich besonders klar und eben      
  24 zu machen, denselben so zu zergliedern und auseinander zu setzen, daß,      
  25 wenn er vielleicht einen Fehlschluß beginge, derselbe ihm doch alsbald      
  26 in die Augen leuchten müßte; denn es wird vorausgesetzt: daß, wenn      
  27 die Betrachtung gleich verwickelt ist, derjenige eher die Wahrheit entdecken      
  28 werde, der dem andern an Scharfsinnigkeit vorgeht. Er mu      
  29 seine Untersuchung also, so viel möglich, einfach und leicht machen,      
  30 damit er nach dem Maße seiner Urtheilskraft in seiner Betrachtung      
  31 eben so viel Licht und Richtigkeit vermuthen könne, als der andere      
  32 nach dem Maße der seinigen in einer viel verwickeltern Untersuchung.      
           
  34 Diese Beobachtung habe ich mir in der Ausführung meines Vorhabens      
  35 ein Gesetz sein lassen, wie man bald wahrnehmen wird.      
           
           
     

[ Seite 012 ] [ Seite 014 ] [ Inhaltsverzeichnis ]