Kant: AA I, Gedanken von der wahren ... , Seite 009

     
           
 

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Text (Kant):

 

 

 

 
  01 man nicht ohne die Menschheit ablegt. Derjenige, der von Vorurtheilen      
  02 eingenommen, erhebt gewisse Männer, die es umsonst sein würde zu      
  03 verkleinern und zu sich herunterzulassen, über alle andere zu einer      
  04 unersteiglichen Höhe. Dieser Vorzug bedeckt alles übrige mit dem      
  05 Scheine einer vollkommenen Gleichheit und läßt ihn den Unterschied      
  06 nicht gewahr werden, der unter diesen annoch herrscht, und der ihn      
  07 sonst der verdrießlichen Beobachtung aussetzen würde, zu sehen, wie      
  08 vielfach man noch von denjenigen übertroffen werde, die noch innerhalb      
  09 der Mittelmäßigkeit befindlich sind.      
           
  10 So lange also die Eitelkeit der menschlichen Gemüther noch mächtig      
  11 sein wird, so lange wird sich das Vorurtheil auch erhalten, d. i. es      
  12 wird niemals aufhören.      
           
  13
V
     
           
  14 Ich werde in dem Verfolg dieser Abhandlung kein Bedenken      
  15 tragen, den Satz eines noch so berühmten Mannes freimüthig zu verwerfen,      
  16 wenn er sich meinem Verstande als falsch darstellt. Diese      
  17 Freiheit wird mir sehr verhaßte Folgen zuziehen. Die Welt ist sehr      
  18 geneigt zu glauben: daß derjenige, der in einem oder dem andern Falle      
  19 eine richtigere Erkenntniß zu haben glaubt, als etwa ein großer Gelehrter,      
  20 sich auch in seiner Einbildung gar über ihn setze. Ich unterstehe      
  21 mich zu sagen, daß dieser Schein sehr betrüglich sei, und daß er      
  22 hier wirklich betrüge.      
           
  23 Es befindet sich in der Vollkommenheit des menschlichen Verstandes      
  24 keine solche Proportion und Ähnlichkeit, als etwa in dem Baue des      
  25 menschlichen Körpers. Bei diesem ist es zwar möglich aus der Größe      
  26 eines und des andern Gliedes einen Schluß auf die Größe des Ganzen      
  27 zu machen; allein bei der Fähigkeit des Verstandes ist es ganz anders.      
  28 Die Wissenschaft ist ein unregelmäßiger Körper, ohne Ebenmaß und      
  29 Gleichförmigkeit. Ein Gelehrter von Zwerggröße übertrifft öfters an      
  30 diesem oder jenem Theile der Erkenntniß einen andern, der mit dem      
  31 ganzen Umfange seiner Wissenschaft dennoch weit über ihn hervorragt.      
  32 Die Eitelkeit des Menschen erstreckt sich allem Ansehen nach nicht so weit,      
  33 daß sie diesen Unterschied nicht sollte gewahr werden und die Einsicht      
  34 einer und der andern Wahrheit mit dem weiten Inbegriffe einer vorzüglichen      
  35 Erkenntniß für einerlei halten sollte; zum wenigsten weiß ich, da      
  36 man mir Unrecht thun würde, wenn man mir diesen Vorwurf machte.      
           
           
     

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